ehen   Der Otter geht über Land. Dachs und Biber gehen nach ihrer Äsung, der Hirsch geht niedrig, wenn er abgeworfen, hoch, wenn er sein Geweih auf hat, das Tier geht hochbeschlagen, der Bär und die Sauen gehen von oder zu Holze, der Hase geht schnell oder langsam, wenn er schnell oder langsam läuft, der Jäger geht jagen oder pirschen, der Hund geht auf Schweiß. - (waid)

Gehen (2) Verlieren Sie vor allem nicht die Lust dazu, zu gehen: ich laufe mir jeden Tag das tägliche Wohlbefinden an und entlaufe so jeder Krankheit; ich habe mir meine besten Gedanken angelaufen, und ich kenne keinen, der so schwer wäre, daß man ihn nicht beim Gehen loswürde... beim Stillsitzen aber und je mehr man stillsitzt, kommt einem das Übelbefinden nur um so näher... Bleibt man so am Gehen, so geht es schon. - Sören Kierkegard, Brief an Jette (1847), nach (chatw)

Gehen (3)

Nun erklär' ich auch dies, weshalb wir, sobald wir nur wollen,
Schritte zu machen vermögen und unsere Glieder zu regen,
Was uns sodann die Fähigkeit gab, die so große Gewichtslast
Unseres Körpers voran zu bewegen: vernimm nun die Lehre!

Also ich sage: Zuerst erscheinen uns Bilder des Gehens
Vor dem Geist, und sie geben, wie früher gelehrt, ihm den Anstoß.
Dann wird der Wille zum Gehen erweckt; denn Niemand beginnt doch
Etwas zu tun, wenn der Geist was er will nicht voraussieht;
Was er voraus nun sieht, deß Bild steht ihm vor der Seele.
Regt sich nun also im Geiste der Wille zum Gehen und Schreiten,
Trifft er sofort auf die seelische Kraft, die im Körper verteilet
Überall hin ist zerstreut durch alle Gelenke und Glieder.
Leicht vollzieht sich auch dies; denn der Geist ist der Seele verbunden.
So gibt diese den Stoß an den Körper dann weiter; so schiebt sich
Und so bewegt sich allmählich die Last im Ganzen nach vorwärts.
Dann wird locker des Körpers Gewebe; die Lücken durchflutet
Selbstverständlich die Luft, wie sie muß; denn immer beweglich
Dringt sie reichlich herein und gelangt durch die Poren ins Innre.
Und so verteilt sie sich weiter von da zu den feinsten Atomen
Unseres Leibes. So kommt's durch beiderseitige Hilfe,
Daß sich der Körper bewegt wie ein Schiff mit Riemen und Segeln.
Hierbei darf es jedoch nicht weiter uns wunderbar scheinen,
Daß so kleine Atome den mächtigen Körper zu drehen
Und die menschliche Last vollständig zu lenken imstand sind.
Treibt doch der Wind, deß Leib so zarte und feine Atome
Bilden, ein mächtiges Schiff mit gewaltigem Wehen nach vorwärts,
Das auch bei raschester Fahrt nur lenkt ein einziger Handgriff;
Und ein Steuer genügt es nach allen Seiten zu drehen.

- (luk)

Gehen (4)  Im Islam, und vor allem bei den Sufi-Orden, wurde siyahat oder das »Irren« — der Vorgang oder Rhythmus des Gehens — als ein Mittel benutzt, die Bindungen an die Welt zu lösen und den Menschen zu erlauben, sich in Gott zu verlieren.

Das Ziel eines Derwischs war es, ein »wandernder Toter« zu werden: einer, dessen Körper auf der Erde lebendig bleibt, dessen Seele jedoch bereits im Himmel ist. In einem Sufi-Handbuch, dem Kashf-al-Mahjub, heißt es, daß der Derwisch am Ende seiner Reise der Weg geworden und nicht mehr der Wanderer ist, zum Beispiel eine Stelle, die überquert wird, und nicht ein Reisender, der seinem eigenen freien Willen gehorcht. - (chatw)

Gehen (5) Werner Herzog war der einzige Mensch, mit dem ich ein Gespräch unter Gleichgesinnten führen konnte über das, was ich den heiligen Aspekt des Gehens nennen würde. Er und ich glauben beide, daß Gehen nicht einfach nur einen therapeutischen Wert besitzt, sondern eine poetische Handlung ist, die die Welt von ihren Übeln heilen kann. Er resümiert seinen Standpunkt in einer strengen Erklärung: »Gehen ist eine Tugend, Tourismus eine Todsünde.« Ein schlagendes Beispiel für diese Philosophie war seine winterliche Pilgerreise zu Lotte Eisner.

Lotte Eisner, Filmkritikerin und Mitarbeiterin Fritz Langs in Berlin, war Anfang der dreißiger Jahre nach Paris emigriert, wo sie half, die Cinémathèque zu gründen. Lange Zeit später, nachdem sie Werners Film Lebenszeichen gesehen hatte, schrieb sie an Fritz Lang nach Kalifornien: »Ich habe die Arbeit eines wunderbaren jungen deutschen Filmemachers gesehen.« Worauf er antwortete: »Nein. Das ist unmöglich.«

Sie sollte bald einer der geistigen Wegbereiter des neuen deutschen Films werden, ließ junge Regisseure von ihrer immensen Erfahrung profitieren, und da sie Jüdin war, konnte sie ihnen helfen, den Anschluß an eine große Tradition des Filmemachens zu finden, die unter Hitler zerschlagen worden war.

Werner, so wurde mir erzählt, war ihr Favorit. Und als er 1974 hörte, daß sie im Sterben liege, begab er sich zu Fuß durch Eis und Schnee von München nach Paris, im Vertrauen darauf, daß er ihre Krankheit irgendwie wegwandern könne. Als er schließlich ihre Wohnung erreichte, war sie genesen, und sie lebte noch weitere zehn Jahre.  - Bruce Chatwin, Was mache ich hier. Frankfurt am Main 1993 (Fischer - Tb. 10362, zuerst 1989)

Gehen (6) Der Dämon wählte sich zwei ganz neue Gehenkte — einen alten dicken Taschendieb mit rotem Turban und einen jungen bleichen Onkelmörder mit weißem Fez, (denn mit einem einzigen Körper vor den Kollegen zu erscheinen, das hätte für ihn nicht den Schatten eines Reizes mehr gehabt), fuhr in den Dicken und schleppte den Jungen auf den Schultern mit. Dabei hatte er sich in seinen Kräften verrechnet und erfuhr bald, wie schwer ein Mensch allmählich werden kann. Er sann nach — und auf einmal warf er den Jungen ab, ging in dem Dicken soweit voran, daß der Zauber gerade noch bis zu dem abgelegten Leichnam zurückreichte (welches nach heutigen Begriffen etwa der Entfernung von einem Zigarrenladen bis zum andern entsprochen hätte), fuhr wieder in den Jungen, überholte nun um ebensoviel den umgefallenen Dicken und marschierte so abwechselnd mit den beiden Toten wie mit zwei riesigen Füßen fort. So kam er ohne jede Mühe und auch kaum langsamer vorwärts. Nur daß natürlich die beiden Gehenkten durch das viele Umfallen keineswegs besser und sauberer, vielmehr sehr schmutzig wurden, da zu jenen Zeiten nicht nur Pferde, son ern vornehmlich Ochsen als Zugtiere verwendet wurden und der Straße ihr charakteristisches Gepräge gaben.   - Wilhelm von Scholz, Seelenwanderungskunst. In: Jenseits der Träume. Seltsame Geschichten vom Anfang des Jahrhunderts. Hg. Robert N. Bloch. Fankfurt am Main 1990 (st 1595, zuerst 1916)

Gehen (7)

Beine in die Hand nehmen

- Aus: Songes drolatiques de Pantagruel, 1565, nach (rab)

Gehen (8)  Der Mond stand jetzt am Himmel. Er stand noch nicht hoch, aber er stand. Sein Gelb war ekelerregend. Vollmond war längst vorbei, er nahm mehr und mehr ab.

Watts Gewohnheit, geradenwegs, zum Beispiel, nach Osten zu gehen, bestand darin, daß er seinen Oberkörper so weit wie möglich nach Norden drehte und gleichzeitig sein rechtes Bein so weit wie möglich nach Süden schleuderte, dann seinen Oberkörper so weit wie möglich nach Süden drehte und gleichzeitig sein linkes Bein so weit wie möglich nach Norden schleuderte, dann wieder seinen Oberkörper so weit wie möglich nach Norden drehte und sein rechtes Bein so weit wie möglich nach Süden schleuderte, dann wieder seinen Oberkörper so weit wie möglich nach Süden drehte und sein linkes Bein so weit wie möglich nach Norden schleuderte, und so weiter, immer und immer wieder, viele, viele Male, bis er sein Ziel erreichte und sich hinsetzen konnte. So zuerst auf einem Bein und dann auf dem anderen stehend, bewegte er sich in rasendem Schneckentempo in gerader Linie voran. Die Knie beugten sich bei diesen Gelegenheiten nicht. Sie hätten es tun können, aber sie taten es nicht. Keine Knie konnten sich besser beugen als Watts, wenn es ihnen beliebte, Watts Knien fehlte nichts, wie sich vielleicht erweisen wird. Aber wenn sie spazierengingen, beugten sie sich nicht, aus irgendeinem dunklen Grund. Nichtsdestoweniger fielen die Füße, Ferse und Sohle zusammen, platt auf die Erde und hoben sich nur mit unverkennbarem Widerstreben wieder von ihr ab, um sich auf die unerforschten Luftwege zu wagen. Die Arme begnügten sich damit, in völliger Gleichgewichtigkeit herabzuhängen.

Lady McCann, die hinter ihm herankam, glaubte noch nie auf offener Straße so außergewöhnliche Bewegungen gesehen zu haben, und wenige Frauen hatten eine größere Erfahrung der offenen Straße als Lady McCann. Daß sie nicht vom Alkohol herrührten, bewiesen ihre Regelmäßigkeit und Zielstrebigkeit. Watts Gang war ein seiltänzerischer Taumel. Mehr noch als durch die Beine wurde Lady McCann durch den Kopf beeindruckt. Denn die Beinbewegungen konnten auf mancherlei Art erklärt werden. Und während sie über die eine oder andere Art nachdachte, wie diese Beinbewegungen erklärt werden konnten, erinnerte sie sich an den alten Witz aus ihrer Jungmädchenzeit, den alten Witz von den Medizinstudenten und dem Herrn, der mit steifen, gespreizten Beinen vor ihnen herging. Entschuldigen Sie, Sir, sagte, seine Mütze lüftend, einer der Studenten, als sie ihn eingeholt hatten, mein Freund hier behauptet, es seien Hämorrhoiden, während ich wette, daß es nur ein Tripper ist. Dann haben wir alle drei uns getäuscht, erwiderte der Herr, denn ich glaubte, es wäre nur ein harmloser Furz.  - (wat)

Gehen (8)   Montag, den 19. März, kam ich in London an, und am folgenden Tag stieß ich an der Fleet Street auf ihn, wie er bedeutend einherkam, oder besser, sich fortbewegte, denn sein Gang wird folgendermaßen trefflich beschrieben: «Wenn er die Straße entlangging, hatte es bei dem ständigen Wackeln des Kopfes und der damit verbundenen schlingernden Bewegung des Körpers ganz den Anschein, als komme er durch diese Bewegung voran,  unabhängig von den Füßen.» Daß er oft angestaunt wurde, wenn er sich auf diese Art fortbewegte, läßt sich leicht denken; es war aber nicht ratsam, sich über den bärenhaften Mann lustig zu machen. Bennet Langton war einmal dabei, wie er aus Unachtsamkeit durch einen plötzlichen Ruck einem Träger das Gepäck vom Rücken stieß und weiterstiefelte, ohne zu merken, was er angerichtet hatte. Der Träger, höchlich erbost, blieb stehen und musterte die gewaltige Erscheinung, überzeugte sich aber bald, das klügste sei wohl, stillzuschweigen und sich das Gepäck wieder aufzuladen. - (johns)

Gehen (9)  

Bewegung
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