efühlsleben
Oberst Aureliano Buendía wurde sich ohne Verwunderung bewußt, daß Ursula
der einzige Mensch war, der sein Elend zu ergründen vermocht hatte, und zum
erstenmal in vielen Jahren wagte er, ihr ins Gesicht zu sehen. Ihre Gesichtshaut
war rissig, ihre Zähne angefressen, ihr Haar verblichen und farblos und ihr
Blick bestürzt. Er verglich sie mit seinen frühesten Erinnerungen von jenem
Nachmittag, als er das Vorgefühl hatte, ein Topf mit brühheißer Suppe werde
vom Tisch rutschen, und er ihn darauf in Stücken fand. In einem Lidschlag entdeckte
er die Kratzer, die Risse, die Geschwüre und Narben, die ein halbes Jahrhundert
des Alltags in ihr hinterlassen hatten, und stellte fest, daß diese Schäden
in ihm nicht einmal ein Gefühl des Mitleids auslösten. Nun machte er eine letzte
Anstrengung und suchte in seinem Herzen den Ort, wo seine Zuneigung vermodert
war, konnte ihn aber nicht finden. Zu anderer Zeit hatte er zumindest ein wirres
Gefüh! der Beschämung empfunden, als er an seiner eigenen Haut Ursulas Geruch
entdeckte, und, mehr als einmal hatte er seine Gedanken von ihrem Denken durchkreuzt
gefühlt. Doch all das war vom Krieg weggefegt worden. Selbst Remedios, seine
Ehefrau, war in diesem Augenblick das verwischte Bild einer, die seine Tochter
hätte sein können. Die ungezählten Frauen, die er in der Wüste seiner Liebe
gekannt hatte und durch die sein Samen über den ganzen Küstenstrich verstreut
worden war, hatten keine Spuren in seinem Gefühlsleben hinterlassen. Die Mehrzahl
von ihnen hatte sein Zimmer im Dunkeln betreten und es vor Tagesanbruch verlassen,
sie waren am nächsten Tag nichts als ein Anflug von Überdruß
in seinem körperlichen Gedächtnis. Seine einzige Zuneigung, die Zeit und Krieg
widerstanden hatte, war die für seinen Bruder José Arcadio empfundene, als,
beide Knaben waren, und diese gründete nicht auf Liebe, sondern auf Verschwörerschaft.
- Gabriel Garcìa Márquez, Hundert Jahre Einsamkeit. Reinbek
bei Hamburg 1972 (rororo 1484, zuerst 1967)
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