Gefangene (russische)   Schon am ersten Tag meines Zuchthausdaseins hatte ich eine Beobachtung gemacht, von deren Richtigkeit ich mich später überzeugen konnte. Die Beobachtung nämlich, daß alle andern Menschen, wer es auch sein mochte, angefangen von denen, die unmittelbar mit den Gefangenen in Berührung kamen, wie die Begleitmannschaften und die Wachen, bis zu allen andern Personen, die in irgendeiner Weise mit dem Zuchthaus zu tun hatten, den Gefangenen mit übertriebener Furcht begegneten. Es war, als ob sie jeden Augenblick voll Besorgnis darauf warteten, daß ein Sträfling mit dem Messer auf sie losgehen könnte. Was aber noch bemerkenswerter war - die Sträflinge wußten, daß man sie fürchtete, und dieses Bewußtsein verlieh ihnen sichtlich einen gewissen Schneid. Dabei ist der beste Vorgesetzte für Gefangene immer noch derjenige, der keine Angst vor ihnen hat. Und trotz des erwähnten Schneids ist es den Gefangenen selbst auch viel lieber, wenn man Vertrauen zu ihnen hat. Dadurch kann man sogar ihre Sympathie erwerben. Auch wahrend meines Zuchthausaufenthaltes kam es, wenn auch sehr selten, vor, daß einer der Offiziere sich ohne Begleitung ins Zuchthausgelände wagte. Man mußte gesehen haben, wie das die Sträflinge beeindruckte, und zwar positiv beeindruckte. Ein so unerschrok-kener Besucher konnte ihrer Hochachtung sicher sein, und wenn es wirklich einmal einen Zwischenfall hätte geben können, so gewiß nicht in seiner Gegenwart. Die Furcht vor den Sträflingen ist überall da verbreitet, wo es Sträflinge gibt, dabei kann ich mir schlechterdings nicht erklären, worin diese Furcht ihren Ursprung hat. In gewisser Hinsicht ist sie zwar motiviert, schon durch das Äußere des Sträflings, der ja erwiesenermaßen ein Verbrecher und Übeltäter ist, zudem spürt jeder, der ein Zuchthaus betritt, daß alle diese Menschen nicht aus freien Stücken hier sind und daß man, allen Vorkehrungen zum Trotz, einen lebendigen Menschen nicht einfach abtöten kann: er bleibt, was er ist, mit seinen Gefühlen, seinem Durst nach Rache, seiner Lebensgier, seinen Leidenschaften und dem Bedürfnis, sie zu befriedigen. Aber trotz alledem bin ich restlos überzeugt, daß es keinen Anlaß gibt, sich vor den Sträflingen zu fürchten. Immerhin geht ein Mensch nicht leicht und ohne weiteres mit dem Messer auf seinesgleichen los. Kurzum, selbst wenn ein gewisses Risiko dann und wann nicht auszuschließen ist, kann man doch allein aus der Seltenheit derartiger Unglücksfälle schließen, daß es verschwindend gering ist. Ich spreche hier selbstverständlich nur von bereits abgeurteilten Gefangenen, unter denen manch einer geradezu froh ist, endlich im Zuchthaus gelandet zu sein (so angenehm erscheint einem zuweilen das neue Leben!), und die deshalb dazu neigen, sich ruhig und friedlich zu verhalten; überdies lassen die Gefangenen selber nicht zu, daß die paar wirklichen Ruhestörer unter ihnen etwas Ernstliches anrichten. Jeder Sträfling, so tollkühn und verwegen er vorher auch gewesen sein mag, fürchtet sich im Zuchthaus vor allem und jedem.  - Fjodor M. Dostojewskij, Aufzeichnungen aus einem toten Hause. München 1985 (zuerst 1861-62)
 

Gefängnis

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Sträfling