Gefallene   Aber Bettler und Künstler machen nur einen kleinen Teil der Vagabundenbevölkerung aus. Sie sind die Aristokraten, die Elite der Gefallenen. Weit zahlreicher sind diejenigen, die nichts zu tun haben, die nirgendwohin gehen können. Viele sind Säufer, aber dieser Ausdruck wird der Verheerung nicht gerecht, die sie verkörpern. Hüllen der Verzweiflung, in Lumpen gekleidet, ihre Gesichter blau geschlagen und blutend: sie schlurfen durch die Straßen wie in Ketten. Sie schlafen in Toreingängen, taumeln wie Verrückte durch den Verkehr, brechen auf Gehsteigen zusammen. Und sie scheinen überall zu sein, sooft man sich nach ihnen umsieht. Manche verhungern, andere erfrieren, wieder andere werden geschlagen oder verbrannt oder gefoltert.

Für jede Seele, die in dieser besonderen Hölle verloren ist, gibt es mehrere andere, die im Wahnsinn eingeschlossen leben - unfähig, in die Welt hinauszugehen, die an der Schwelle ihres Körpers beginnt. Obwohl sie da zu sein scheinen, können sie nicht als anwesend gezählt werden. Der Mann zum Beispiel, der immer zwei Trommelstöcke bei sich hat und mit ihnen einen verwegenen, unsinnigen Rhythmus auf das Pflaster trommelt, ungeschickt vornüber gebeugt, während er die Straße entlanggeht und auf den Beton schlägt und schlägt. Vielleicht glaubt er, eine wichtige Arbeit zu verrichten. Vielleicht würde, wenn er nicht tut, was er tut, die Stadt auseinanderfallen. Vielleicht würde der Mond aus seiner Bahn trudeln und auf die Erde stürzen. Es gibt welche, die mit sich selbst reden, die murmeln, schreien, fluchen, stöhnen, die sich selbst Geschichten erzählen, als hörte ihnen jemand zu. Der Mann, den ich heute sah: Er saß wie ein Haufen Abfall vor der Grand Central Station, die Menge strömte an ihm vorbei, und er sagte mit lauter, schreckerfüllter Stimme: «Drittes Marineinfanteriekorps... Bienen essen... Die Bienen krabbeln aus meinem Mund.» Oder die Frau, die einem unsichtbaren Begleiter zurief: <Und was, wenn ich nicht will! Was, wenn ich, verdammt noch mal, einfach nicht will!'

Da sind die Frauen mit ihren Einkaufstüten und die Männer mit ihren Pappkartons, die ihre Habseligkeiten von einem Ort zum anderen tragen, immer unterwegs, als ob es von Bedeutung wäre, wo sie sind. Der Mann, der sich in eine amerikanische Flagge eingehüllt hat. Die Frau mit einer Halloween-Maske vor dem Gesicht. Der Mann in einem zerschlissenen Mantel, seine Schuhe sind in Fetzen gewickelt, aber er trägt ein tadellos gebügeltes Hemd auf einem Kleiderbügel, noch in der Plastikhülle der Reinigung. Der Mann in einem Straßenanzug, barfuß, einen Rugbyhelm auf dem Kopf. Die Frau, deren Kleidung von Kopf bis Fuß mit Ansteckplaketten vom Präsidentschaftswahlkampf bedeckt ist. Und da ist der Mann, der beim Gehen die Hände vors Gesicht hält, hysterisch weint und immer und immer wieder sagt: «Nein, nein, nein. Er ist tot. Er ist nicht tot. Nein, nein, nein. Er ist tot. Er ist nicht tot.»    - Paul Auster, Die Stadt aus Glas. in: P. A., Die New-York-Trilogie. Reinbek bei Hamburg 1991

Fallen Schichtung, soziale

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

Verwandte Begriffe
Synonyme
Abgehängte