ebiß  An Grete Bloch 16.V.14  Liebes Fräulein Grete, die Zahnschmerzen bedeuten offenbar, daß Ihnen in Wien auch dieses Schlimmste nicht erspart werden, daß aber von der Abreise ab alles besser werden soll. Was könnten die Zahnschmerzen für einen andern Sinn haben? Und warum sollten Sie sinnlos geplagt werden? Was Schlaflosigkeit und »Kopferweiterung« bedeutet, das weiß ich auch in diesem Augenblick sehr gut und scheine dieses Wissen gar nicht verlieren zu wollen, die wirklichen allerschlimmsten Zahnschmerzen aber hatte ich vielleicht noch nicht und lese davon in Ihrem Brief wie ein Schuljunge, der ganz ratlos ist. Wie behandeln Sie eigentlich Ihre Zähne? Putzen Sie sie (ich rede jetzt leider zu der Dame, die vor Zahnschmerzen auf Höflichkeit und Förmlichkeit nicht achtet) nach jedem Essen? Was sagen die verfluchten Zahnärzte? Wenn man sich ihnen einmal ergeben hat, muß man das Elend bis zum Ende auskosten. Ich glaube, Felice hat mit ihrem fast vollständigen Goldgebiß verhältnismäßige Ruhe. Könnten Sie sich diese Ruhe nicht auch auf diese Weise verschaffen? In der ersten Zeit mußte ich, um die Wahrheit zu sagen, vor F.'s Zähnen die Augen senken, so erschreckte mich dieses glänzende Gold (an dieser unpassenden Stelle ein wirklich höllenmäßiger Glanz) und das graugelbe Porzellan. Später sah ich, wenn es nur anging, absichtlich hin, um nicht daran zu vergessen, um mich zu quälen und um mir schließlich zu glauben, daß das alles wirklich wahr sei. In einem selbstvergessenen Augenblick fragte ich F. sogar, ob sie stell nicht schäme. Natürlich schämte sie sich glücklicher Weise nicht. Jetzt aber bin ich damit, nicht etwa nur durch Gewohnheit (die blickmäßige Gewohnheit könnte ich mir ja noch gar nicht erworben haben), fast ganz ausgesöhnt. Ich würde die Goldzähne nicht mehr wegwünschen, das ist aber kein ganz richtiger Ausdruck, weggewünscht habe ich sie eigentlich niemals. Nur scheinen sie mir heute fast passend, besonders präcis und - was nicht geringfügig ist - ein ganz deutlicher, freundlicher, immer aufzuzeigender, für die Augen niemals wegzuleugnender, menschlicher Fehler, der mich vielleicht F. näher bringt, als es ein, im gewissen Sinn auch fürchterliches, gesundes Gebiß imstande wäre. - Es ist hier nicht ein Bräutigam, der das Gebiß seiner Braut verteidigt, eher ist hier einer, der das, was er sagen will, nicht richtig darzustellen imstande ist, der aber außerdem Ihnen ein wenig Mut machen will, wenn es nicht anders geht, allerdings nur dann, etwas Radikales gegen Ihre Schmerzen zu tun. Aber vielleicht ist es besser, auch damit zu warten, bis Sie in Berlin sind.

Das Aussehn meiner diesmaligen Schrift entschuldigt sich dadurch daß ich mich vorgestern tief in den rechten Daumen geschnitten, einen kleinen Kübel mit meinem Blut angefüllt habe und nun den Daumen naturheilgemäß, also ohne Pflaster oder Verband behandele, wodurch er zwar 10 mal langsamer, aber 100 mal schöner ohne Entzündung, ohne Anschwellen, als eine wahre Augenweide wieder zusammenheilt. - Franz Kafka, Briefe an Felice. Frankfurt am Main 1976 (zuerst 1967)

Gebiß (2)

- Odilon Redon

Gebiß (3)  Im Coupole stoßen wir auf einen von den Zeitungsleuten; er ist betrunken. Einen von der oberen Abteilung. In der Redaktion ist gerade ein Unglück passiert, berichtet er uns. Einer der Korrektoren ist den Aufzugslift hinuntergestürzt. Keine Aussicht, daß er am Leben bleibt.

Zuerst ist Van Norden bestürzt, tief bestürzt. Als er aber hört, daß es Peckover, der Engländer, war, atmet er auf. «Der arme Teufel», meint er, «besser für ihn, daß er tot ist. Er bekam gerade dieser Tage sein Gebiß . . .»

Die Erwähnung des Gebisses rührt den Mann von der oberen Abteilung zu Tränen. Er berichtet sabbernd einen mit dem Unglück zusammenhängenden kleinen Vorfall. Er ist davon aus der Fassung gebracht, mehr aus der Fassung gebracht als durch den Unglücksfall selber. Es scheint, daß Peckover, als er unten im Schacht aufschlug, zum Bewußtsein kam, ehe ihn jemand erreichen konnte. Obwohl seine Beine gebrochen und seine Rippen eingedrückt waren, war es ihm gelungen, sich auf alle viere aufzurichten und nach seinen falschen Zähnen herumzutasten. Auf dem Transport schrie er im Delirium nach den falschen Zähnen, die er verloren hatte.   - (krebs)

Gebiß (4)  

Das erste lachende Gebiß reicht für alle, hinten und vorn, Zu- schauer und Mitesser. Es ist herzhaft und schmeckt pausbäckig. In Buchweizengrütze blüht es richtig auf, aber erst die schleichenden Ohrspeicheldrüsen, sogenannte Erbs-Mümpse, bringen es vollends zur innerlichsten Kichernis, ja zur totalen Sperre. Allerdings hatten wir einmal einen, dem es fröhlich zum Hals heraushing, aber das ist eine Ausnahme. Gewöhnlich liegt das erste lachende Gebiß auch nur jenen im Magen, die es allen Ernstes kauen. Auf jeden Fall ist es dem blubbernden Eisbein vorzuziehen. Wir empfehlen es üblicherweise Mitarbeitern wie Außenstehenden zur Entkrampfung mauliger Atmosphären und hartnäckiger Geduld.

  - (pas)

Gebiß (5)  Ohne seine falschen Zähne sah Hoke sehr viel älter aus als zweiundvierzig, und als er an diesem Morgen, immer noch in Gedanken bei Loretta Hickey, in den Spiegel schaute, fragte er sich, ob sie sich wohl für ihn als Liebhaber interessieren könnte. Wohl kaum, dachte er, wenn sie ihn ohne Zähne sähe. Seine Augen waren das beste an ihm. Sie waren schokoladenbraun - ein so tiefdunkles Braun, daß es schwierig war, seine Pupillen zu sehen. In den Jahren beim Miami Police Department hatte sich dieses genetische Geschenk bei vielen Gelegenheiten als nützlich erwiesen. Hoke konnte Leute lange Zeit anstarren, ehe sie merkten, daß er es tat. Nach allen ästhetischen Maßstäben waren Hokes Augen schön. Der Rest des Gesichtes jedoch war, wenn nicht gewöhnlich, ziemlich unauffällig. Das sandblonde Haar war vorn schon einigermaßen schütter, und die hohe Stirn gab seinem langen Gesicht einen traurigen Ausdruck. Seine braungebrannten Wangen waren eingefallen und zerfurcht, und von den Flügeln seiner ausgeprägten Nase zogen sich dunkle tiefe Falten bis zu den Mundwinkeln.

Hoke nahm sein Gebiß aus dem Plastikbecher, wo es über Nacht in Poiident-Lösung gelegen hatte, spülte es unter dem Wasserhahn ab, betupfte es mit Stik-Gum und setzte es ein. Mit den blaugrauen Zähnen, fand er, sah er ein bißchen besser aus, und er setzte sie stets ein, bevor er sich rasierte.  - Charles Willeford, Neue Hoffnung für die Toten. Berlin 2002 (zuerst 1985)

Mund
Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe
Verwandte Begriffe
Synonyme