Gebärfähigkeit  Die Ärzte im Krankenhaus standen vor einem Rätsel. Sie untersuchten das Kind mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, konnten aber nur feststellen, daß etwas mit dem Skelett nicht stimmte. Wenn da überhaupt ein Skelett vorhanden war. Da der Vater des Kindes Soldat der amerikanischen Besatzungsmacht war, empfahlen sie der Hebamme, das Kind ins Armeehospital zu bringen.

Tatsächlich war den amerikanischen Ärzten das Phänomen der knochenlosen Geburt vertrauter als ihren deutschen Kollegen, auch wenn es bis dahin in den Vereinigten Staaten nicht mehr als ein Dutzend dokumentierter Fälle gegeben hatte. Das Problem war nur, daß man hier noch weniger als in den Staaten auf einen etwaigen Fall vorbereitet war. Das Neugeborene bekam über den Tropf eine Infusion mit Kieselsäure und Kalzium, wurde in ein Wärmebettchen gelegt und mit einem Trockenmilchpräparat gefüttert, das mit Folsäure versetzt war. Damit waren die Mittel, die man zu dieser Zeit besaß, ausgeschöpft.

Auf diese Art und Weise wurde es ein knappes dreiviertel Jahr am Leben erhalten. Es befand sich in einer winzigen Kammer, die nur Ärzte und Pfleger betreten durften. Sonst niemand. Auch Vater und Mutter nicht. Nicht nur wegen des ungewohnten Anblicks, der einen Laien schnell hätte verwirren können, sondern auch und besonders aus hygienischen Gründen. Dann starb das Kind.

An einem Donnerstagnachmittag bestellte man Frau Howardt und ihren Mann in das Hospital. Sie mußten in einem gekachelten Flur auf einer braunlackierten Bank auf die Ärzte warten. Frau Howardt kannte diesen Flur. Hier hatte sie kurz vor Kriegsende schon einmal gesessen, um sich innerhalb einer großangelegten Untersuchung im mittelhessischen Raum ihre Gebärfähigkeit bestätigen zu lassen.

Damals war sie von einem Arzt in SS-Uniform in einen ebenfalls gekachelten Raum geführt worden, wo er ihren Beckenumfang und ihre Schenkelbreite maß. Er nahm noch andere Daten auf, zum Beispiel die Länge vom Nabel bis zum Ansatz der Schambehaarung, und den Winkel, in dem sie ihre Beine zu spreizen in der Lage war. Dann durfte sie sich wieder anziehen. Fast zwei Stunden mußte sie anschließend auf dem Gang warten. Schließlich wurde ihr die Mitteilung gemacht, daß ihre Gebärfähigkeit über dem geforderten Mindestmaß liege und sie folglich den Vorzug besäße, an einer weiteren Untersuchungsreihe teilzunehmen.

Nun stand sie, keine drei Jahre später, vor einem Spalier weißbekittelter Armeeärzte, die ihrem Mann etwas auf Englisch sagten und ihr mit bedauerndem Gesichtsausdruck die Hand drückten. Als sie es übersetzt haben wollte, schüttelte ihr Mann nur den Kopf. Ob sie nicht jetzt wenigstens das Kind einmal sehen durfte? Ihr Mann sagte, es sei besser, wenn er zuerst hineinging. Die zehn Minuten, die sie allein auf dem Flur warten mußte, waren fast unerträglich. Irgendetwas veränderte sich, und sie konnte es nicht aufhalten. Als ihr Mann aus dem Zimmer kam, war sein Gesicht flach und konturlos. Er sagte, sie solle den Kleinen so in Erinnerung behalten, wie sie ihn kurz nach der Geburt gesehen hatte. Sie konnte sich an kein genaues Bild erinnern, gab aber trotzdem nach.    - Frank Witzel, Blue Moon Baby. Hamburg 2015 (Edition Nautilus, zuerst 2001)

Gebärfähigkeit (2)  Dem Fabrikanten direkt unterstellte Entwicklungsgruppen arbeiten an einer Erweiterung der menschlichen Fähigkeiten. Jeden Mittwochabend werden dem Fabrikanten die neusten Ergebnisse unterbreitet. Diesmal geht es um die männliche Gebärfähigkeit. Die Fontanelle, referiert ein ehemaliger Stabsarzt, ist die Anlage der Natur, die wir für uns nutzen werden. Durch sie verlässt schließlich auch die Seele den Körper. Naiv wäre es allerdings zu glauben, dass es ohne Schmerzen abgehe, durch den Kopf zu gebären. Kraniotomie lautet der Fachausdruck. Denn ein Schädel ist hart. Dagegen ist eine Vaginalgeburt gar nichts. Der Stabsarzt winkt nach hinten, und zwei Schwestern bringen einen nur mit einer Unterhose bekleideten jungen Mann nach vorn. Der Arzt dreht ihn so zur Seite, dass auf seinem rechten Oberschenkel eine etwa 30 Zentimeter lange Narbe zu sehen ist. Das haben wir hier aufgeschnitten, ein Zwillingspärchen im fötalen Stadium eingepflanzt und bis zur vollen Reife austragen lassen. Und dann wieder auf demselben Weg hinaus, bevor die Wunde richtig vernarbt war. Eine sinnvolle Prozedur, bei der, so muss man allerdings feststellen, der Mann seine eindeutige Überlegenheit gegenüber der Frau zeigt, da diese die Geburt durch bereits vorhandene Öffnungen kaum erträgt. Der Stabsarzt dreht den Mann wieder nach vorn, greift den Bund der Unterhose und zieht diese bis zu den Knien hinunter. Er nimmt die Spitze des Gliedes mit Daumen und Zeigefinger und hebt es nach oben. Eine lange, rötliche Narbe ist zu sehen. Die Anlagen haben wir alle, führt er aus, alle, wie wir da sind. Jeder Mann. Hypospadie sagen wir dazu, aber das muss der Mann auf der Straße sich nicht merken. Femorale, kraniale, urethrale Schwangerschaft, das sind alles nur Begriffe, hinter denen sich unser Ansatz verbirgt, die von der Natur gegebenen Möglichkeiten unseres Geschlechts endlich entsprechend zu nutzen. Nicht umsonst sind wir die Erfinder von Werkzeugen und Gerätschaften. Wir sind nicht auf eine Öffnung angewiesen, wie das Weib, sondern folgen den Spielarten der Evolution. Kniekehle, Achselhöhle, Skrotum, der Möglichkeiten sind so viele. Und dazu Geburtswerkzeuge für den Mann in der bewehrten Helmfried-Serie aus papierdünn geschmiedetem Eisen.  - (raf)
 
 

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