reitag Wortlos und unaufgefordert - ich saß noch nicht lange am Tisch, und es berührte mich seltsam - stellte der Kellner, im schnellen Vorbeigehen, ein großes Glas Bier vor mich hin. Ich war beinahe zu erschöpft, einen Gedanken daran zu verschwenden. Ich hatte noch den schweren schmetternden Schlag im Ohr, der aus dem tiefblauen Himmel gekommen war, nach welchem die Luft wie ein gläserner Splitterregen auf mich niederzufallen schien und der mich entnervt in das Restaurant auf der Westseite gejagt hatte. Nun stand vor mir eins jener hochbordigen, nassen und glatten Halblitergläser, die auf sehr schmalem Boden fußen, einem Boden, der nur etwa der Hälfte ihres oberen Durchmessers entspricht. Mit aller gebotenen Vorsicht faßte ich zu, doch kaum berührten meine Fingerspitzen das kühle Glas, da hatte ich es schon umgeworfen.
Nicht daß ich an diesem Tag besonders nervös gewesen wäre: ich wollte nach
Berlin, um meinem Kind einen der monatlich vereinbarten Besuche zu machen, hatte
aber aus unerfindlichen Gründen den letzten der häufiger verkehrenden Mittagszüge
versäumt; nun wurde ich vergeblich erwartet, ich hatte eine Reihe vergnüglicher
Vorhaben durcheinandergebracht, in weniger als drei Stunden würde aller Groll
meiner Untreue gegenüber wieder aufgebrochen sein, ich würde am Abend, viel
zu spät kommend, die entsprechenden Vorwürfe mit Erklärungen, die miserabel
fahrende Straßenbahnen und Busse zu bedenken gaben, kaum entkräften können,
und ein Teil meines kurzen Besuchs war verdorben. Zudem wäre ich es, der als
Verderber galt, als ein Vater, der seiner kleinen Tochter selbst so spärliche
Freuden verdarb. - Es war einer der bislang heißesten Tage dieses Sommers, beinahe
bewußtlos von der Hatz aus einem der verstockten Verkehrsmittel ins andere,
hatte ich den Zug ohne mich abfahren sehen und mit noch dumpfen Schuldgefühlen
einen Fahrplan nach der nächsten Verbindung abgesucht, resigniert schließlich
festgestellt, daß ich nun über drei Stunden Zeit hatte, und mich in dem großen
Bahnhofsrestaurant niedergelassen. -Zweifellos war es eine Lappalie, kaum erwähnenswert,
gehäuftes Vorkommen von Lappalien muß solchen keinen besonderen Rang verleihen,
ebensowenig brauchte die vorhersehbare Mißlaune meiner früheren Frau aufgebauscht
zu werden. Der kochende Dunst im Innern des Restaurants,
der dem Stimmenlärm einiger hundert Menschen seltsame Schwankungen zu verleihen
schien, das Hämmern meiner Pulse, das meine Sinne ganz in Anspruch nahm und
mich mit Intervallen von Schweißausbrüchen in Atem hielt, war vielleicht nichts,
das mich inmitten dieser Menschenansammlung in hervorstechender Weise beeinträchtigte;
womöglich war jeder der Anwesenden von den Temperaturen, den Gerüchen, vom allgemeinen
Dämmer der Stagnation in einem so riesigen Wartesaal seines wahren Gefühlsreichtums
beraubt, als aber das umgestürzte Bier den Tisch überschwemmte, kam mir zum
ersten Mal der Verdacht, dieser Freitag stünde für mich unter einem bestimmten
Vorzeichen. - Auf dem Stuhl rechts neben mir saß
ein blütenrosa gekleidetes Mädchen, nur wenig älter, schätzte ich, als meine
eigene Tochter, und löffelte buntes Fruchteis; die Woge von Bier schoß auf das
Kind zu, brach sich schäumend am Fuß des Eisbechers, schwoll mit perfidem Schwung
an dem Plastikoval empor und überflutete dessen Inhalt, umfangreiche Spritzer
landeten auf dem Kleid des schreckerstarrten Kindes, ein beträchtlicher Rest
der Welle erreichte noch seine Mutter, die entsetzt eine Handtasche gegen mich
schwenkte und gleich darauf in kalte, sprachlose Empörung verfiel. Ich war erbleicht
und von Schweißströmen überflössen. Ich murmelte eine Entschuldigung, wußte
aber nicht, ob sie zu hören war; entschlossen, für alle Unkosten aufzukommen,
fingerte ich nach meiner Geldbörse -wußte jedoch in aller Empfindlichkeit, daß
ich auch dabei scheitern mußte, denn kurz zuvor hatte ich den größten Teil meines
Geldes für die Fahrkarte ausgegeben - die Mutter aber, mich mit höchster Verachtung
strafend, zog das Mädchen an der Hand mit sich fort. Der Kellner
nahm mit angewiderter Miene das Tischtuch weg. -
Wolfgang Hilbig, Fester Grund. In: W.H., Grünes grünes Grab. Frankfurt am Main
1993
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