Frauenschädel  Gala war noch nicht wieder gesund. In unserem Zweiter-Klasse-Abteil klebte ihre Wange stundenlang an meiner Brust, und ich staunte, daß ihr Köpfchen, dessen einziges Gewicht in seinem Ausdruck zu bestehen schien, so schwer war. Es war, als sei der ganze kleine Schädel mit Blei gefüllt. Ich begann über ihren Schädel nachzudenken. Ich sah ihn ganz weiß und sauber und darin ihre Zähne, die so vollkommen, so wohlgestaltet, regelmäßig und bestimmt, glänzend und strahlend sind, als spiegele jeder einzelne die Wahrheit der aus dem Speichelquell ihrer Kehle hervorwachsenden roten Zunge. Ich verglich ihren, nur mit seinen wahren Zähnen bewaffneten Schädel ohne Zunge, Speichel und Kehlkopf mit den lügenhaften Zähnen meines Schädels. Ich hatte wirklich den Mund eines alten Mannes. Kein Zahnarzt hat je das Geheimnis meiner Gebißstruktur ergründen können.*  Stets geraten sie darüber ins Staunen - ich weiß nicht, ob vor Schreck oder vor Bewunderung; einmal konnte der meine Zähne untersuchende Arzt nicht umhin, mir zu dem unvergleichlichen Mißgeschick meiner Zahnstruktur zu gratulieren; sie sei nach seiner Ansicht etwas Einmaliges. Nicht ein einziger Zahn befand sich dort, wo er sein sollte.

Mir fehlten zwei Backenzähne - sie waren nie gewachsen - und zwei Schneidezähne im Unterkiefer, die, nachdem ich die Milchzähne dort verloren hatte, tatsächlich nie nachwuchsen; weitere Zähne wuchsen dort, wo sie nicht hingehörten.

So stellte ich mir also meinen Schädel neben demjenigen Galas vor- eine wahre Katastrophe, nicht nur wegen der chaotischen Zähne: Mein äußerst schwach entwickeltes Kinn bot einen starken Kontrast zu den entschieden ausgeprägten Bögen der Augenbrauen, die auch im Totenreich noch ihre Blickblitze schleudern würden. Außerdem konnte ich mir meinen Schädel nicht weiß vorstellen - er würde immer ockerfarben und nach Verwesung aussehen, die Farbe der mit Dung gesättigten Erde haben. Galas Schädel war, wie gesagt, weiß, ja sogar himmelblau getönt, wie jene glatten, durchscheinenden Halbedelsteine, die Galas Mutter am Ufer des Schwarzen Meeres aufgesammelt und ihr geschenkt hatte und die nun in einer mit Baumwolle ausgeschlagenen Schachtel aufbewahrt wurden. Ich dachte an unser gemeinsames Begräbnis: Gala und ich, einander die Hände haltend. ..

Galas vom Schlaf überwältigter Schädel fiel in meinen Schoß. Ich legte ihn wieder an seinen Platz auf meiner Schulter, die bereits von seinem Gewicht schmerzte. Mir gegenüber schwankten andere, auf unbekannten Mitreisenden befestigte Schädel mit jedem Ruck des Zuges schlaff hin und her. Auf all diesen Gesichtern spazierten ungehindert die Fliegen umher. Wir erreichten Malaga in einem Zug voller »todmüder« Menschen.

* Der - auf jeden Fall symbolische - Zusammenhang zwischen Zähnen und Geschlechtsorganen ist klar nachgewiesen. Verliert man im Traum Zähne - im Volksmund als Todesomen gedeutet -, so gilt dies als deutlicher Hinweis auf Onanie. Auch bei manchen afrikanischen Stämmen wird die Beschneidungszeremonie durch das Ziehen eines Zahnes ersetzt.  - (dali)

 

Schädel Körperteile, weibliche

 

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Frauenkopf