Flickschuster     Als glücklicher Ausbesserer menschlicher Fußbekleidung lebt er unter freiem Himmel, braucht wenig Raum, was ein Merkmal wahrer Weisheit ist; er singt, dieweil er werkt, und werkt, dieweil er singt, und hat das Recht, seine Frau zu prügeln, wenn sie frech wird; ein Privileg, das nicht einmal der Grandseigneur für sich in Anspruch nehmen kann. Da sitzt er an der Ecke einer Kreuzung, schaut den Vorbeigehenden nach, ist der erste Zeuge all dessen, was sich in der Öffentlichkeit abspielt, stets bereit, bei Schlägereien richtend einzugreifen; nichts entgeht ihm, nichts hindert ihn daran, seinen Senf zu allem, was sich rund um ihn herum tut, beizusteuern; als heiterer Philosoph, der er nun einmal ist, hält er Gericht über die ewig miteinander hadernden Fuhrknechte, Droschkenkutscher und Lastträger, fällt Urteile und Freisprüche, erhebt die Stimme, hält Volksreden und findet Gehör. Heinrich IV. ließ sich seine Stiefel flicken und war dennoch ein großer König. Und keine sechzig Jahre ist es her, da ließen sich auch die angesehensten Bürger der Stadt noch ihre Schuhe besohlen. Die Innung der Flickschuster war damals entsprechend zahlreich, doch da nichts von Dauer ist auf dieser Welt, nichts dem Zahn der Zeit entgeht, ist das Gewerbe inzwischen auf den Hund gekommen, und außerdem hütet sich der Flickschuster heutzutage wohl, seiner Arbeit allzu gründlich zu obwalten oder gar den Schuhen, die durch seine Hände gehen, neuwertiges Aussehen zu verleihen; täte er es, schadete er sich selbst.

Fremd ist dem Flickschuster, der unter den Augen seines ganzen Quartiers lebt, jener Hang zu heuchlerischer Unaufrichtigkeit, den man in den Krämerbuden antrifft.  Unbekümmert packt er die Dienstmagd bei der Hand, küßt sie, daß es knallt, und tätschelt ihr dabei verliebt den Hintern. Und in den Destillen der Schweinetreiber fühlt er sich genauso wohl wie in den Boulevardkneipen, weiß genau Bescheid über Art, Qualität und Preis der ausgeschenkten Weine und verbringt dort, Wasser und Wassertrinker gleichermaßen verabscheuend, den Sonntag mit den kleinen Handwerksmeistern aus den Hinterhöfen. Stets blieb er mangels Geld den öffentlichen Häusern fern, doch wenn ihm Dirnen Arbeit bringen, nimmt er ihnen gern in seiner Bude Maß. Zur großen Verlegenheit seiner Tochter, die dann kaum aufzublicken, geschweige denn, es jenen Mädchen nachzutun wagt. Sie ist, gleich ihrer Mutter, tugendsam geblieben, schon weil auch sie unter dem respektheischenden, weil allzeit recht schlagkräftigen Regiment des Knieriemens steht...

Der glückliche Flickschuster hält seine ehelichen Strafgerichte auf öffentlichem Platze ab, unter den Augen der braven Bürger, die schmerzlich bedauern, daß es ihnen nicht auch gegeben ist, sich mit Brachialgewalt Gehorsam zu erzwingen, wo Gehorsam hingehört. Desungeachtet ist unser Mann ein friedlicher Bürger. An der Regierung hat er lediglich auszusetzen, daß das Leder immer teurer und obendrein schlechter wird. Dazu ist er im allgemeinen treu, sowohl gegenüber seinem Lieblingsgetränk wie auch gegenüber seiner Frau. Wo er sich einmal niedergelassen hat, da bleibt er: hat er den Tag mit Schnaps begonnen, wird er ihn auch mit Schnaps beenden, und wenn es ihm nach Wein oder auch Bier zumute ist, dann bleibt's bei Wein und Bier. So kommt es, daß die Flickschuster dem Steuerpächter weit mehr zu verdienen geben als dieser den Flickschustern. Ihre Ehen schließen sie noch nach altem Pariser Bürgerbrauche, das heißt, an ihrem Hochzeitstage verprassen sie die Früchte der Arbeit eines ganzen Jahres, wovon einzig der Steuerpächter einen Nutzen hat. - Aber was will man! Seit Menschengedenken hat der Flickschuster nun einmal einen guten Durst, und die höchste seiner Wonnen ist und bleibt die Kneipe. Er durchschaut die Leute. Jetzt zum Beispiel faßt er jenen feinen Herrn, der da gerade so geckenhaft vorbeistolziert, ins Auge. Doch sieh mal einer an, seine Schuhe sind frisch besohlt, also konnte er sich keine neuen leisten, und auch seinen eleganten Anzug trägt er nur, weil ihn der Schneider auf Kredit geliefert hat. Dem Flickschuster entgeht nichts dergleichen; mehr noch, er weiß die tugendhaften, sparsamen Mädchen seines Vierteils von den anderen zu unterscheiden, und zwar daran, daß sie ihr Schuhwerk zu ihm in Pflege geben, während sich die ändern, die sich ihr Geld auf sündige Weise verdienen, zu vornehm sind, ausgebesserte Schuhe zu tragen. Er ist es auch, der den Absätzen der Dienstmägde die Flecken aufsetzt, und an ihren Schuhen erkennt er, wer gerade und wer schief geht. Selten fällt er auf, solange er da ist, doch kaum bleibt er weg, wird er vermißt, er, der zur Kreuzung gehört wie die Kreuzung zur Stadt, und wenn er stirbt, bleibt eine Lücke, und die Mägde halten ihm die Leichenrede...

Wenn man den Flickschuster auch geringachtet, hat er doch viel Gemeinsames mit den Gesetzgebern unserer Tage. Was tun denn jene? Pausenlos damit beschäftigt, den Turmbau der Paragraphen arn Einstürzen zu hindern, bepflastern sie von früh bis spät Altes mit Neuem und betreiben so auch nichts anderes als ewige Flickschusterei. Genausowenig wie das, was aus den Händen des Flickschusters kommt, von ewiger Dauer sein kann, sind es die neuen Paragraphen, und so, wie sich der geflickte Schuh verzieht und den Fuß wund scheuert, der ihn anhat, entsprießen dem ergänzten Rechtsartikel alsbald die kuriosesten Ungeheuerlichkeiten und heillosesten Widersprüche. Wahrlich, die Gesetzgeber unserer Tage stehen den Flickschustern in nichts nach!  - Louis Sébastien Mercier, Mein Bild von Paris. Frankfurt am Main 1979 (zuerst ca. 1780)

Schuster

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