iktion  Das wahre Übel, das Übel schlechthin, sind die gesellschaftlichen Konventionen und Fiktionen, die sich über die natürlichen Gegebenheiten legen - angefangen von der Familie bis hin zum Geld, von der Religion bis zum Staat. Man wird als Mann oder als Frau geboren - ich will damit sagen, man wird geboren, um als Erwachsener einmal Mann oder Frau zu sein; man wird aber nach den Gesetzen der Natur nicht geboren, um Ehemann oder um reich oder arm zu sein, ebensowenig kommt man als Katholik oder Protestant, als Portugiese oder Engländer zur Welt. All das wird man nur unter dem Einfluß gesellschaftlicher Fiktionen. Warum aber sind diese gesellschaftlichen Fiktionen schlecht? Weil es sich um Fiktionen handelt, weil sie nicht natürlich sind. Der Staat taugt ebensowenig wie das Geld, die Religionen genausowenig wie eine Familiengründung. Gäbe es andere Fiktionen dieser Art, wären sie genauso schlecht, weil es auch nur Fiktionen wären, weil sie sich auch nur über die natürlichen Gegebenheiten legen würden und diesen im Wege wären. Und jedes System - außer dem rein anarchistischen, das ja all diese Fiktionen samt und sonders abschaffen will - ist auch nur eine Fiktion. All unser Wünschen und all unser Bemühen, unsere ganze Intelligenz darauf zu verwenden, eine gesellschaftliche Fiktion durch eine andere zu ersetzen, wäre absurd, wenn nicht ein Verbrechen, weil das darauf hinausliefe, Aufruhr in die Gesellschaft zu tragen, und das einzig und allein mit dem Ziel, nichts zu verändern. Wenn wir schon die gesellschaftlichen Fiktionen ungerecht finden, weil sie das Natürliche im Menschen niederhalten und unterdrücken, warum dann unsere Kraft damit verschwenden, sie durch andere zu ersetzen, wo wir sie doch alle vernichten könnten?   - Fernando Pessoa, Ein anarchistischer Bankier. Berlin 1986 (zuerst 1922)
 
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