estnahme   Es war warm. Der Hotelgeruch widerte Maigret an. Ob sie erraten hatte, daß ihm nicht ganz wohl zumute war? In aller Ruhe hatte sie ihren Morgenrock ausgezogen, das Hemd und den Schlüpfer, und sich dann splitternackt auf das zerwühlte Bett gelegt und eine Zigarette angesteckt.

»Ich warte!« hatte er ungeduldig gesagt und sich bemüht, woanders hinzusehen.
»Ich auch.«
»Ich habe einen Haftbefehl.«
»Also los! Nehmen Sie mich fest.«
»Ziehen Sie sich an, und kommen Sie mit.«
»Das hab' ich gar nicht nötig.«
Die Situation war lächerlich. Sie war alles andere als aufgeregt, sie verhielt sich abwartend, ein kleines ironisches Funkeln in den farblosen Augen.
»Sie sagen, Sie verhaften mich. Ich habe nichts dagegen. Aber Sie dürfen darüber hinaus nicht von mir verlangen, daß ich Ihnen dabei helfe. Ich bin hier in meiner eigenen Wohnung. Es ist warm, und es ist mein gutes Recht, mich nackt auszuziehen. Wenn Sie jetzt darauf bestehen, daß ich so, wie ich bin, mitkomme, so soll es mir recht sein.«
Mindestens zehnmal hatte er wiederholt:
»Ziehen Sie sich an!«

Und vielleicht weil sie eine blasse Haut hatte, vielleicht auch der verkommenen Umgebung wegen hatte er das Gefühl gehabt, er habe niemals eine so nackte Frau wie diese gesehen. Vergebens hatte er ihr ihre Kleider aufs Bett geworfen, hatte ihr gedroht, hatte sie zu überreden versucht.

Schließlich war er hinuntergegangen und hatte zwei Polizisten geholt, und die Szene war grotesk geworden. Sie hatten das Mädchen mit Gewalt in eine Decke wickeln und wie ein Paket die enge Treppe hinuntertragen müssen, während sich bei ihrem Vorbeikommen alle Türen öffneten. - Georges Simenon, Maigret und die Bohnenstange. München 1973 (Heyne Simenon-Kriminalromane 15, zuerst 1951)

Festnahme (2)  »Ist er bewaffnet?«

»Der ist mit Fäusten bewaffnet, und mit was für welchen!« Die Stimme mit dem wollüstigen Unterton gehörte der Hauswirtin des Wüterichs, einer schniefnasigen Irin mit einem boshaften Schielauge. »Er ist doppelt so groß wie Sie«, fuhr sie genießerisch fort. »Und schwarz. Sie sind stärker, wenn sie schwarz sind.«

Davies sah sie wenig begeistert an. »Warum kommt er nicht herunter? Was macht er überhaupt da oben?«

»Betrunken«, sagte sie prompt. »Eine Flasche Whisky und eine Flasche Rum pro Tag. Ich hab' ihn gewarnt, er würde noch als Alkoholiker enden.«

»Voraussichtlich«, stimmte Davies zu. »Haben Sie mal einen Eimer, junge Frau?«

»Hab' ich«, sagte sie. »Brauchen Sie auch einen Aufnehmer? Um das Blut aufzuwischen?«

»Bloß den Eimer«, stöhnte Davies.

Sie schlurfte nach drinnen und kam mit einem Eimer wieder heraus.

»Wie heißt er?« fragte Davies den Sergeant.

»Bright«, erwiderte dieser nach einem Blick in sein Notizbuch. »Pomeroy Bright.«

»Pomeroy?« wiederholte Davies. »Die heißen wohl nie einfach nur Bill oder Ben? Okay. Geben Sie mir den Eimer, Gnädigste.«

Die Irin gab ihn ihm. Davies lehnte sich erst einmal gegen die Treppenstufen und rief nach oben: »Pomeroy, hier ist die Polizei. Kommen Sie bitte herunter.«

Die höfliche Bitte wurde mit einem üppigen Schwall von karibischen Schimpfwörtern beantwortet. Davies spürte, wie sich seine Augenbraue nach oben zog. »Ich glaube nicht, daß er freiwillig kommt«, flüsterte er dem Sergeant zu.

»Pomeroy«, rief er noch ein Mal. »Du hast keine Chance, Junge. Komm runter, und laß uns hier unten in Ruhe über alles reden. Warum bist du nicht vernünftig!«

»Weil ich verdammt noch mal nicht vernünftig sein will, Mann«, war die Antwort. »Ich warte nur drauf, daß ihr mich holen kommt. Komm nur rauf, Mann, komm rauf!«

»Verflucht«, murmelte Davies. Zu dem Sergeant sagte er: »Ich gehe rauf. Sorg dafür, daß deine Sturmtruppen dicht hinter mir sind und nicht zwei Bushaltestellen weit weg.«

»Wir fangen dich auf«, war die zweideutige Zusage. »Wozu soll der Eimer gut sein?«

»Was glaubst du denn? Vielleicht zum Melken? Er soll das abfangen, was der Idiot von oben herunterwirft. Das nennt man Lernen aus Erfahrung. Du bist sicher, daß er keine Kanone hat?«

»Sicher bin ich nicht, aber ich glaube es nicht.« Ein schöner Trost!

Davies atmete einmal tief durch, hielt sich den Eimer wie ein Visier vors Gesicht und sagte: »Auf geht's.«

Er stürmte die Treppen hoch wie ein Büffel. Der Eimer verstärkte sein Kriegsgeheul, sein Mantel flatterte um seine Fußknöchel. Die Hauswirtin wich zurück und bekreuzigte sich schnell, während die Polizisten, von dem plötzlichen Ausbruch überrascht, zögerten und dann vorsichtig hinterherstiefelten.

Dangerous Davies warf sich gegen die Tür, die zu seiner Überraschung gleich aufsprang. Sie war nicht verschlossen gewesen. Pomeroy Bright erwartete ihn in zwei Schritt Entfernung. Er war ein Riese, und er hielt einen ausgewachsenen, gerahmten Wandspiegel in der Hand wie einen Kricketschläger. Davies' Erscheinung hinter dem Eimer überraschte ihn so sehr, daß er einen Augenblick wie versteinert war.

Davies blieb im Türrahmen stehen und ließ, als kein Angriff erfolgte, den Eimer sinken - und genau in diesem Moment holte Pomeroy mit dem Spiegel aus und traf mit einem waagerecht geführten Schlag den Kopf seines Gegners. Das letzte, was Davies, der sich von seiner schützenden Rüstung entblößt hatte, erblickte, war das ungewohnte Spiegelbild seiner schreckverzerrten Miene. Dann ging er zu Boden und geriet unter die Stiefel seiner Polizeikameraden, die hereinstürmten, um den Westinder zu überwältigen.  - Leslie Thomas, Dangerous Davies, Der letzte Detektiv. Köln 1991 (DuMont's Kriminal-Bibliothek 1028, zuerst 1976)

Festnahme (3) Cash gelangte hustend ans untere Ende der Treppe. Inzwischen fielen keine Schüsse mehr. Meyers Leiche lag am Fuß der Stufen. Immer noch hustend schritt sie über ihn hinweg und wandte sich zu der offenen Hintertür, und plötzlich stand sie Goémond, zwei seiner Untergebenen und einem mit Maschinenpistole bewaffneten Gendarmen gegenüber. Die vier Männer trugen Gasmasken und starrten sie durch die grün-weiße Wolke Chlorbenzylidenmalodinitril (CS) an.

«Ich ergeb mich», sagte Cash hustend, indem sie die Hände über den Kopf hob.

Goémond schoß ihr eine Kugel in die Brust. Durch den Aufschlag wurde sie nach hinten geschleudert. Und fiel rücklings in den Gemeinschaftsraum.

«Du», sagte Goémond zu dem Gendarmen, «du vergißt das hier. Denk an deine Pension.»  - Jean-Patrick Manchette, Nada. München 2006 (zuerst 1972)

Festnahme (4)  Von der Polizei wurde eine Verfügung erlassen, den Toten - koste es, was es wolle, lebendig oder tot - festzunehmen und ihn, als abschreckendes Beispiel für die anderen, auf das strengste zu bestrafen, und das wäre ihr beinahe auch gelungen. Der Wächter irgendeines Viertels in der Kirjuschkingasse hatte nämlich den Toten schon ganz fest am Kragen gepackt, und zwar gerade auf frischer Tat, bei dem Versuch, irgendeinem ausgedienten Musikanten, der seinerzeit auf der Flöte gepfiffen hatte, den Friesmantel von den Schultern zu reißen. Als der Wächter ihn am Kragen gepackt hatte, rief er mit seinem Geschrei zwei andere Wächter herbei, denen er auftrug, den Toten festzuhalten, während er selber nur rasch in seinen Stiefel langen wollte, um aus dem Schaft rechtzeitig die Tabaksdose herauszuziehen und seine schon etwa sechsmal im Leben erfrorene Nase zu erfrischen; aber der Tabak war scheint's von einer Sorte, daß ihn nicht einmal ein Toter vertragen konnte. Der Wächter war noch nicht dazugekommen, sein rechtes Nasenloch mit dem Finger zu verstopfen, um in das linke eine halbe Faustvoll Tabak aufzuschnupfen, als der Tote so heftig nieste, daß es allen dreien gänzlich die Augen verpappte. Ehe sie ihre Fäuste hoben, um sich die Augen zu reiben, war der Tote spurlos verschwunden, so daß sie nicht einmal genau wußten, ob er sich nun tatsächlich in ihren Händen befunden hatte oder nicht. Seit der Zeit hatten die Wächter eine solche Angst vor Toten, daß sie sich sogar fürchteten, die Lebendigen zu ergreifen, und nur aus der Ferne schrien: »He, du dort, geh deines Weges!« - Nikolaj Gogol, Der Mantel. In: N.G., Sämtliche Erzählungen. Stuttgart u. Hamburg 1961

Festnahme (5)   Cagone saß zusammengekauert auf seinem Stuhl: die Backen grau und schlaff, vier schwindsüchtige Schmachtlocken im Nacken, die Augenlider herabhängend. Die verschränkten Hände, das war offensichtlich, zitterten bereits. Dabei hatte sich der Carabiniere an Cazzitini gewandt, der neben ihm saß, und nicht an ihn; im Gegenteil, er hatte ihm sogar einen freundschaftlichen Klaps gegeben. Dann erst, ganz unvermittelt, drehten sich alle drei Cagone zu und sagten gelassen: »Du, auf, komm mit!« Cagone hatte durchaus nicht geschlafen. Er war auf allerhand dunklen Wegen tätig gewesen, und bei ihm zu Hause lag ein Toter. So brach er los, kaum daß die Polypen gesprochen hatten: »Nein! Ich geh nicht mit euch! Warum denn? Was wollt ihr denn?«

Dabei war er halb aufgestanden, fluchtbereit, in der Hoffnung, die Freunde würden ihm den Rücken decken. Schon kamen von allen Seiten Leute herbei, um zuzuschauen. Man hörte ein Stimmengewirr: »Na, was ist denn hier wieder los?« - »Die wollen Cagone hoppnehmen.« - »Das Schwein, hat er sich so vollaufen lassen ? « Einer redete dies, einer das, das Gemurmel schwoll immer lauter an. »Aber was hat er denn ausgefressen? Was ist los mit ihm?« Einer redete auf Cagone ein, der sich weiß wie ein Tuch wieder gesetzt hatte: »Hau ab!«, und ein anderer meinte: »Wenn du nicht Leine ziehst, wirst du die Brüder nicht wieder los, Junge!«

Die Menge drängte sich dichter um die Tische, vor allem Frauen mischten sich ein: Die schon im Gehen waren, traten näher, und die aus den umliegenden Häusern kamen auf den Platz hinaus und gafften.

Es waren alles arme Vorstadtfrauen, ungekämmt, dürftig bekleidet, mit schwarzen, speckigen, dreckigen Hausjacken auf dem Leib und Holzpantinen an den Füßen. Die Polizisten begannen zu schreien: »Weg! Auseinander! Platz machen!« Doch die Frauen, die einen dichten Kreis um sie bildeten, rührten sich nicht und fingen ihrerseits an zu schreien; erst hoch verhalten, dann immer gellender riefen sie den Plattfüßen Schimpfworte zu: »Ihr Schinder! Ihr Hunde! Schämt euch!« Sie heulten fast, ihre Gesichter waren rot und ausgelaugt, die Haare aufgelöst, Strähnen hingen ihnen in die Stirn.

Da packten zwei der Bullen, ohne noch mehr Zeit zu verlieren, Cagone unter den Armen und hoben ihn hoch, um ihn vom Stuhl zu reißen, an dem er sich festkrallte, und ihn wegzuschleppen. Der Ranghöchste, ein Neapolitaner von etwa vierzig Jahren, rief so kut es mit seiner trübselig näselnden Stimme möglich war: »Macht Platz, sag ich! Aus dem Weg!«

Cagone konnte sich nicht lange festhalten. Er drehte und wand sich verzweifelt, schon hatten sie ihm Hemd und Unterhemd zerrissen, er krümmte sich auf seinem Stuhl, während die Polizisten seine Arme wie im Schraubstock

hielten; er zuckte und stieß mit den Hüften, um freizukommen, als hätte man Stroh unter ihm angezündet. Seine Freunde rührten sich nicht. Sie lehnten am Tisch, sie waren frei, konnten zuschauen, und das taten sie, aufmerksam, einen halben Meter von den Schultern der Polizisten entfernt. Inzwischen waren, vom Lärm herbeigelockt, andere Leute herbeigeströmt. Zwischen der Bushaltestelle und der kleinen Bar drängten sich schon an die hundert Menschen; es war ja Sonntag, und alle Welt trieb sich draußen auf der Straße herum. Die Männer, und zumal die Halbstarken, hielten sich im Hintergrund, die Frauen dagegen schoben sich nach vorn, fest entschlossen, sich bemerkbar zu machen, Partei für Cagone zu ergreifen. Den Polypen war es unterdessen gelungen, ihren Mann vom Stuhl hochzuziehen; aber er klammerte sich jetzt mit beiden Händen an das Bein des Tisches, und wenn sie ihn mitschleppen wollten, mußten sie den ganzen Tisch nachziehen. Die Wirtin der Bar fing an, entsetzt zu schreien: »Ihr macht mir alles kaputt! Ihr ruiniert mir meine Sachen!« Sie war so wütend, ein solcher Haß glühte in ihrer Stimme, daß die anderen Weiber noch lauter als bisher in das Gebrüll einstimmten. Von all dem Getöse betäubt, beschlossen die drei Beamten, ein Ende zu machen. Einer bückte sich, um Cagone die Handgelenke umzubiegen, und versuchte, ihm die Hände vom Tischbein loszureißen. Doch als Cagone, zum wilden Tier geworden, die Pulsader eines der Polizisten dicht vor seinem Mund sah, biß er zu.

Er erwischte das Handgelenk schlecht, mit Ärmel und allem, und glitt ab, verzog den Mund, spuckte aus und biß ein zweites Mal zu, diesmal etwas weiter unten, gegen die behaarte Hand hin. Er nahm so viel Haut wie möglich zwischen die gebleckten Zähne und schnappte zu, während ihm der Speichel aus dem Mund troff und sich mit dem Blut vermischte.

Verrückt vor Schmerz, riß der Polizist mit einem letzten, entscheidenden Ruck Cagone vom Tisch los, daß dieser auf den Boden stürzte, wo er mehrmals dumpf aufschlug. Die anderen ringsum sahen bewegungslos und ruhig der Szene zu. Jetzt schwebte Cagone in der Luft, von den Armen der Bullen emporgehalten, aber er strampelte, trat um sich und versuchte, sich loszuwinden. Der Polizist, der ihn festhielt, mußte sich mit der anderen Hand Platz schaffen, denn die Halbstarken wichen nicht einen Zentimeter, und die Frauen schlossen ihre Reihen immer dichter und enger. So gelang es Cagone noch einmal, sich halb zu befreien, er packte einen anderen von den kleinen Tischen und stürzte mit ihm kopfüber auf den schlammigen Bürgersteig. Diesmal klammerte er sich besser fest: wenn die zwei Polypen ihm die Hände wegzureißen versuchten, trat er nach ihnen mit solcher Wut, daß er bald alle Stühle in der Nähe umgestoßen hatte; und wenn sie Ihn am Körper packten, konnten sie ihn nicht vom Tisch wegzerren. Schließlich brachte es der mit dem blutigen Handgelenk doch zustande, ihn loszureißen. Cagone fand sich plötzlich ausgestreckt auf dem Boden liegend, den Bauch in die Luft gestreckt, an den Beinen festgehalten, den Nacken im Dreck. Er zappelte wie ein Fisch, die Augen verdrehten sich in den Höhlen, und er war so weiß im Gesicht, daß man hätte meinen können, gleich werde er seinen Geist aufgeben. Fast weinend schrie er: »Mamma mia l Hilfe! Laßt mich los!« Die Frauen waren jetzt außer Rand und Band, wie die Furien. »Schweine!« schrien sie. »Seht euch doch vorl« -»Einen armen Kerl so anzupacken, schämt euch, schämt euch!« Und die Polizisten brüllten dagegen: »Aus dem

»Weg! Platz machen!« Eine Frau hängte sich mit beiden Händen an den Arm eines Polizisten, zerrte daran und rief: »Laß ihn doch, laß ihn los, Mörder!« Ein Stein sauste, mit aller Wucht geschleudert, über die Köpfe und zersplitterte an der Wand der Bar. Die Weiber schrien noch lauter: »Ihr Verräter! Ihr habt eure Eltern verraten! Wo kommt ihr denn selbst her, was?« Cagone rollte am Boden hin und her, griff die Polizisten an den Beinen an, und sowie sie ihn einen Schritt weggezogen hatten, biß er zu wie ein toller Hund. Da mußten die Bullen sehen, wie sie ein Ende machten: Einer ballte die Hand zur Faust und versetzte Cagone einen Hieb, daß diesem die Sinne schwanden; und als er die Augen wieder öffnete, hatte er keine Kraft mehr und winselte nur vor sich hin, als ginge es ans Sterben: »Mamma! Hilfe!  Mamma mia! Helft mir, rettet mich doch!«

Doch mit Fußtritten und Fausthieben brachten die Polizisten ihn auf die Beine und brachen sich eine Bahn durch die Menge, Die Frauen, angestachelt von den Männern im Hintergrund, setzten zum Sturmangriff an. »Rückt ihnen auf den Pelz, bringt sie uml« schrien jene, die am weitesten hinten standen. »Tragt ihn doch wenigstens vorsichtig, ihr tut ihm weh, ihr Bestien!« kreischten andere mitleidige Seelen. »Laßt ihn doch in Frieden! Er ist Epileptiker!« -»Er hat weder Vater noch Mutter!« - »Ein Waisenkind, und krank dazu!«

»Auf sie! Bringt sie um!« zischten von hinten die Giftigsten. Sie hatten alle irgend einen Sohn im Kittchen, oder ihre Jungen wurden gesucht oder fanden seit Jahren keine Arbeit und verreckten langsam vor Hunger. Eine Frau zog ihren Holzschuh aus und begann weinend auf einen Polizisten einzuschlagen. Hinter ihr bildete sich eine feste, entschlossene Phalanx. Als die Polizisten sahen, wie ernst es wurde, mußten sie Cagone loslassen - man hätte sie sonst in Stücke gerissen. Cagone blieb still liegen, wo sie ihn fallen ließen. »Sie haben ihn umgebracht!« schrie plötzlich eine Frau gellend. »Alles Blut rinnt ihm aus dem Kopp!« - »Los! Auf sie! Bringen wir sie auch um! Ihr verdammten Arschlöcher, ihr sollt sein Blut noch mit der Zunge auflecken!«

Die Polypen fingen an, mit den Ketten der Handschellen zuzuschlagen, und riefen: »Hört doch auf, ihr Idioten! Wir stecken euch noch alle ins Loch!« Und einer, der die Nerven verlor, brüllte: »Rührt euch nicht, oder wir schießen!« Das hätte er nicht sagen sollen: jetzt rückte der ganze Trupp der Frauen mit erhobenen Holzlatschen und gefletschten Zähnen gegen sie an. Sie stießen die Männer in den Rücken und in die Nieren, Zwei-, dreimal fielen die Bullen zu Boden, auf die Knie oder der Länge nach, und die Frauen um sie herum traten nach ihnen, spuckten sie an. Da krümmten sie sich, schlängelten sich hoch, liefen davon, rannten immer schneller. Äste, Ziegelsteine, Holzstücke warfen die Frauen hinter ihnen her. An der Straße stand eine, ihr Baby auf dem Arm, neben einem Kohlenbecken, in dem sie ein Feuer zum Kalkbrennen angezündet hatte. »Brenn ihnen eins auf den Leib, Crocefi! Laß sie kokelnl« brüllten die Frauen ihr zu.

Ohne sich das zweimal sagen zu lassen, setzte Crocefissa ihr Kind ab und machte sich daran, die Polizisten mit glühenden Holzscheiten zu bewerfen. Damit nicht zufrieden, packte sie plötzlich mit beiden Händen das Becken mit der knisternden und knackenden Glut darin und schüttete es über die Füße der Polizisten aus, die in eine Wolke aus Asche, Rauch und Funken eingehüllt wurden.

Da öffnete Cagone, der immer noch wie tot am Boden lag, ein Auge, machte es wieder zu, öffnete es noch einmal und sah gleichmütig um sich. Breitbeinig stand Schakal über ihm. Den Blick nach Monte Sacro gerichtet, als redete er nur vor sich hin, sagte er: »Hau ab, zu mir nach Hause.« Sachte stand Cagone auf und verschwand geschmeidig wie ein Fuchs in der Menge. - Pier Paolo Pasoloni, Vita Violenta. München u. Zürich 1983 (zuerst 1959)

Festnahme (6)   

Polizist
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