Fastenbrecher  Der Oberst schaute kritisch auf die Uhr, als Sullivan eine Viertelstunde zu spät auftauchte.

»Das würdest du bei einer Aktion im Krieg nur einmal machen. Ich würde dich an die Wand stellen lassen.«

»Bei einer Aktion im Krieg würde ich erst gar nicht auftauchen. «

»Auch noch Defätismus! Du kommst vor ein militärisches Schnellgericht und ab an die Wand! Aber lassen wir das. Achtung!« Er hielt sich zurück, obwohl er ein »Stillgestanden!« hinzufügen wollte, aber er konnte nicht umhin, die Versammelten kritisch zu mustern, als lasse er sie Revue passieren. »Sehr gut, Sullivan, wunderbar, dieses weiße Hemd, damit uns jeder schon vom Kilimandscharo aus sehen kann! - Dieser Bauch, Junge, mit diesem Bauch wirst du eher rollen als kriechen. Und du, Baske, dich will ich während der ganzen Aktion in meinem Blickfeld haben und keine Sekunde lang im Rücken. - Und Sie, als Beobachter, Sie gehen als Nachhut und melden jeden auffälligen Vorfall hinter unseren Reihen!

So weit, so gut. Ich weiß nicht, ich weiß nicht, was ich mit diesem Haufen tolpatschiger Zivilisten anfangen soll. Vor allem stehe ich vor einem ernsthaften Problem der militärischen Kasuistik: was stellen wir eigentlich dar? Eine Patrouille, eine Guerillaeinheit oder eine Antiguerillatruppe? Außerdem darf man nicht vergessen, daß wir eine Truppe von Unbewaffneten -ich wiederhole von unbewaffneten Männern sind, die ein militärisches Ziel verfolgen.«

»Wenn Sie gestatten«, meinte Sullivan, »mir fällt gerade ein, daß man dies, meiner Meinung nach, als eine Gruppe von Kriegsdienstverweigerern beschreiben könnte, deren kleinster gemeinsamer Nenner die Bedingung ist, keinen umzubringen.«

»An der Front werden keine Bedingungen gestellt! Also, was ist eine Patrouille ?« Allen offenbarte sich ein ganz neuer, didaktischer Villavicencio, der, um die Wichtigkeit bestimmter Wörter zu unterstreichen, seine Stimme fortschreitend anhob, als wollte er sie aus der Syntax herausheben und von der Erde abheben lassen.

»Eine Patrouille ist jede kleine Anzahl oder jede Gruppe von Männern, die eine Einheit bilden oder zur Erfüllung eines Auftrages gegenüber der eigenen Einheit oder dem Feind abkommandiert sind. Im allgemeinen besteht eine Patrouille aus zwei Kerngruppen, einer für die Erfüllung des >Spezialauftrags<, den die Patrouille erhalten hat, und der anderen für die Sicherheit und den Schutz der Patrouille selbst. So, hier beginnen schon die Schwierigkeiten, denn wir haben nicht genügend Männer, um diese Kerngruppen zu bilden. Aber nicht alle Schwierigkeiten lassen sich darauf zurückführen. Welche Aufträge hat eine Patrouille? Was meinst du dazu, Baske, Sergeant...«

»Wieso denn plötzlich Sergeant, was soll das?«

»Ab jetzt bist du Sergeant. Sag mir, welche Aufgabe hat eine Patrouille zu erfüllen? Keine? Null? Menschenskind, das sind mir die richtigen Unteroffiziere heutzutage! Also gut. Eine Patrouille kann die Vorhut einer kleinen Einheit bilden, die bestimmte Arbeiten durchführt oder einen Geländepunkt vor der Einheit erkundet, die sich auf dem Marsch oder in Stellung befindet. Sie kann an einem Punkt des Geländes vor oder an der Flanke ihrer Einheit in Stellung gehen, um den Gegner zu beobachten und zu überwachen, die An- und Abwesenheit des Feindes festzustellen ...«

»Verzeihung, Herr General! Wenn nun die Patrouille die Abwesenheit des Feindes feststellt, hört sie dann auf, eine Patrouille zu sein?«

»Was redest du da für einen Quatsch ?«

»Das Problem ist nicht aus der Luft gegriffen. Ich erinnere mich, daß wir uns damals, in der Universität, als ich als Roter mit meiner Cousine Chon studierte, mit dem metaphysischen Widerspruch des Begriffes ‹Diktatur des Proletariats› auseinandersetzten. Kann man von einer Diktatur des Proletariats sprechen, wenn die Bourgeoisie de facto gestürzt und beinahe vernichtet ist? Ist demzufolge eine Patrouille ohne Feind, auf Grund der Abwesenheit des Feindes, wie du so treffend formuliert hast, Oberst, ist das dann noch eine Patrouille?«

»Eine Patrouille bleibt so lange eine Patrouille, bis der Chef das Gegenteil anordnet!«

»Jetzt ist mir alles viel klarer, Herr Oberst.«

»Weiter, und ich dulde jetzt keine Unterbrechungen mehr, die aus Zeitgründen unsere notwendigen Ziele in Gefahr bringen! Ich sagte, daß eine Patrouille die An- oder Abwesenheit des Feindes feststellen kann, den Feind beobachten, in einer Zone mit Hindernissen den Weg freimachen, und ...« Er schaute sie der Reihe nach an, um sie wachzurütteln und auf die Bedeutung dessen aufmerksam zu machen, was er jetzt sagen wollte. ».., und Hinterhalte legen. Das sind die wesentlichen Merkmale, die uns helfen zu definieren, was das ist, eine Patrouille. So, nun muß man des weiteren denken, daß wir uns ein paar Merkmale der Guerilla und der Antiguerilla zu eigen machen. Der Guerilla: Wahrung der Freiheit der Initiative durch Mobilität, Kenntnis des Geländes, Unterstützung durch die Bevölkerung und Anwendung geeigneter taktischer Methoden. Antiguerilla: hier gibt es weniger Übereinstimmungen, aber eine gewisse Übereinstimmung besteht: zum Beispiel die Koordination zwischen zivilen und militärischen Aktionen. Ich fasse zusammen: wir sind eine Patrouille in Ausführung einer Strafaktion, also dessen, was die Nordamerikaner vor allem im Kino unter dem Namen ›Kommando‹ populär gemacht haben.«

»Wir sind ein Kommando!« rief Sullivan begeistert aus.

»Aus diesem Grunde habe ich einen Plan der Erkundung des Aktionsortes und der Aktionen erstellt, die die Patrouille auf dem Gelände durchzuführen hat. Wir werden die Sache im Handstreich erledigen, und dabei sind zwei Phasen zu unterscheiden: Organisation und Durchführung. Sehen Sie sich diese Skizze an!«

Er entrollte eine Landkarte und hängte sie mit Klebeband an das Fenster der Sporthalle. Vor den Augen der Patrouille erschien ein Gewirr von durchgezogenen und unterbrochenen Linien auf einem topographisch dargestellten Kampfgelände. Unter den Linien, die alle auf einen Winkel zuliefen, der mit der Spitze auf die Küche der Kurklinik wies, stand in säuberlich mit Schablone ausgeführter Schrift:

1. Ziel
2. Wachen
3. Stoßrichtung einer wahrscheinlichen feindlichen Reaktion
4. Zielpunkt
5. Gruppe Sicherung
6. Gruppe Unterstützung
7. Mitglieder des Kommandos zur Ausschaltung von Wachen
8. Gruppe Angriff
9. Sammlungsgebiet

»Ziel ? Die Küche, und konkret, die Speisekammer. Wachen: als solche können wir Senora Encarnación und ihren Mann betrachten, man kann sogar ihren Sohn einbeziehen, wenn er nicht nach Bolinches gegangen ist, um den Rowdy zu spielen. Hoffen wir, daß es nicht nötig sein wird, sie auszuschalten, damit sie nichts ausplaudern - aber falls sie auftauchen, müssen sie ausgeschaltet werden.«  - Manuel Vázquez Montalbán, Wenn Tote baden. München 2003

 

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