amilienbesuch   Liebe teure hochverehrte gnädige Frau,

könnten wir wohl unser Rendezvous von morgen abend auf Donnerstag verlegen? Ich habe eben schon mit Ihrem Fräulein Tochter Mops telefoniert u. mit ihr entsprechende Vereinbarungen getroffen in betreff der Verlagerung unseres Zusammenseins. Morgen nämlich kommt mein ärmlich, aber nicht unsauber gekleideter Vater hier durch u. ich kann ihn nicht mitbringen, er spricht so laut, daß sich alle immer nach ihm umsehn u was er erzählt, hat viel Charakter aber wenig Allgemeininteresse. Er erzählt z. B., daß es 2 neue Pastorshelfer in seinem Dorf jetzt gibt, ganz ordentliche u. gewissenhafte Leute: »aber solche Leuchten wie Herr Milster u. Herr Leier sind es nicht, die waren ja auch eine ganz besondere Gabe für den Ort.« Das kann natürlich bei Hahnen niemand interessieren u. darum sitze ich mit ihm lieber im Christl. Hospiz, wo er billig wohnt, weil er Morgenandacht hält.  - Gottfried Benn an Thea Sternheim, 3. Juli 1928. In: G.B., Das gezeichnete Ich. Briefe aus den Jahren 1900-1956.  München 1962 (dtv 89)

Familienbesuch  (2)   Auf einem Stuhl saß Jechiel. Ich erkannte ihn nur, weil ich wußte, daß er es war. Er sah uralt aus, aber durch das gealterte Gesicht hindurch, wie hinter einer Maske, erschien der Jechiel früherer Zeiten. Sein Schädel war kahl, an der Seite wuchsen ein paar Haarbüschel, die weder grau noch schwarz, sondern farblos waren. Er hatte eingefallene Backen, ein spitzes Kinn, den Hals eines gerupften Hahnes, und die Nase eines Alkoholikers. Die Hälfte seiner Stirn und eine Seite seines Gesichts waren von einem roten Ausschlag bedeckt. Jechiel hob die Augenlider nicht, als wir eintraten. Den ganzen Abend sah ich seine Augen nicht. Auf dem ersten Stuhl saß eine gedrungene, unförmige Frau mit aschfarbenem, unordentlichem Haar; sie trug ein schäbiges Hauskleid. Ihr Gesicht war rund und teigig, ihre Augen waren ausdruckslos und wässrig, wie man sie in Irrenanstalten sieht. Es war schwer zu sagen, ob sie vierzig oder sechzig war. Sie rührte sich nicht. Sie erinnerte mich an eine ausgestopfte Puppe.

Nach dem zu urteilen, was Hanka mir von ihnen erzählt hatte, nahm ich an, daß sie sie gut kannte und ihnen von mir berichtet hatte. Aber es schien, als ob sie sie zum erstenmal traf. Ich sagte: »Jechiel, ich bin dein Vetter Isaak, der Sohn von Bath-Seba. Wir haben uns einmal in Tiszewicz getroffen und später in Warschau.«

»Sí.«

»Erkennst du mich?«

»Sí.«

»Du hast dein Jiddisch vergessen?« fragte ich.

»Nò.«

Nein, er hatte Jiddisch nicht vergessen, aber es machte den Eindruck, als habe er vergessen, wie man spricht. Er döste und gähnte. Ich mußte die Worte aus ihm herausziehen. All meine Fragen beantwortete er entweder mit »Si«, »No«, oder »Bueno«. Weder er noch seine Frau machten die geringste Anstrengung, uns Stühle zu bringen oder auch nur ein Glas Tee. Obwohl ich nicht groß bin, berührte mein Kopf fast die Decke. Hanka lehnte schweigend an der Wand. Ihr Gesicht hatte jeden Ausdruck verloren. Ich ging hinüber zu Jechiels Frau und fragte sie: »Kennen sie noch jemanden in Frampol?«

Sehr lange kam keine Antwort; dann sagte sie: »Niemanden.«

»Wie hieß ihr Vater?«

Sie überlegte, als ob sie sich erst erinnern müßte. »Avram Itcha.«

»Was war sein Beruf?«

Wieder eine lange Pause. »Er war Schuhmacher.« Nach einer halben Stunde war ich es müde, aus diesen stummen Menschen Antworten herauszuziehen. Die Ermattung, die sie ausstrahlten, verwirrte mich. Jedesmal, wenn ich Jechiel anredete, fuhr er auf, als ob ich ihn geweckt hätte.

»Wenn du willst, kannst du mich im Hotel Cosmopolitan erreichen«, sagte ich schließlich.

 »Sí.«

Jechiels Frau gab keinen Laut von sich, als ich mich von ihr verabschiedete. Jechiel murmelte etwas Unverständliches und sank in seinem Stuhl zusammen. Ich glaubte, ihn schnarchen zu hören. Draußen sagte ich zu Hanka: »Wenn das möglich ist, dann ist alles möglich.«  -  Isaac Bashevis Singer, Hanka. In: I.B.S., Leidenschaften. Geschichten aus der neuen und der alten Welt. München 1993. (zuerst 1975) 

 

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