Er ging die Rue de Seine hinauf. Niemand war auf der Straße. Die Häuser standen leer und still. Die Leute waren unten am Fluß beim Feuerwerk. Kein hektischer Menschengeruch störte, kein beißender Pulvergestank. Die Straße duftete nach den üblichen Düften von Wasser, Kot, Ratten und Gemüseabfall. Darüber aber schwebte zart und deutlich das Band, das Grenouille leitete. Nach wenigen Schritten war das wenige Nachtlicht des Himmels von den hohen Häusern verschluckt, und Grenouille ging weiter im Dunkeln. Er brauchte nichts zu sehen. Der Geruch führte ihn sicher.
Nach fünfzig Metern bog er rechts ab in die Rue des Marais, eine womöglich
noch dunklere, kaum eine Armspanne breite Gasse. Sonderbarerweise wurde
der Duft nicht sehr viel stärker. Er wurde nur reiner, und dadurch, durch
seine immer größer werdende Reinheit, bekam er eine immer mächtigere Anziehungskraft.
Grenouille ging ohne eigenen Willen. An einer Stelle zog ihn der Geruch
hart nach rechts, scheinbar mitten in die Mauer eines Hauses hinein. Ein
niedriger Gang tat sich auf, der in den Hinterhof führte. Traumwandlerisch
durchschritt Grenouille diesen Gang, durchschritt den Hinterhof, bog um
eine Ecke, gelangte in einen zweiten, kleineren Hinterhof, und hier nun
endlich war Licht: Der Platz umfaßte nur wenige Schritte im Geviert. An
der Mauer sprang ein schräges Holzdach vor. Auf einem Tisch darunter klebte
eine Kerze. Ein Mädchen saß an diesem Tisch und putzte Mirabellen. Sie
nahm die Früchte aus einem Korb zu ihrer Linken, entstielte und entkernte
sie mit einem Messer und ließ sie in einen Eimer
fallen. Sie mochte dreizehn, vierzehn Jahre alt sein. Grenouille blieb
stehen. Er wußte sofort, was die Quelle des Duftes war, den er über eine
halbe Meile hinweg bis ans an dere Ufer des Flusses gerochen hatte: nicht
dieser schmuddelige Hinterhof, nicht die Mirabellen. Die Quelle war das
Mädchen. - Patrick Süskind, Das Parfüm.
Die Geschichte eines Mörders. Zürich 1985
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