Euphorismus  Euphoristisches Manifest

An die amerikanische Jugend!

Dichterische Revolution? Ja; Übereinkommen über eine neue kreative Dichtung mit sicheren und mächtigen Gesten in unserer verlogenen und schwachbrüstigen Literatur. Es ist an der Zeit, mit dem nüancereichen Vers aufzuhören, der unsere Dichtung verdorben und unser geistiges Vermögen verdummt hat. Weg mit diesem Geschwätz süßlicher Sentimentalismen, und herbei mit dir, euphorische Lyrik, Lichtsturm, kosmische Bö, die unsere Geister schüttelt. Laßt uns ein für allemal mit den theatralischen Sujets, mit der Preziosität, den Gemmen, den Kunststücken aufhören! Besingen wir das Starke und das Nützliche, das Kleine und Mächtige. Festigen wir unsere betäubten Seelen, und ziehen wir eine Parallele zum literarischen Jahrhundert. Erdrücken wir die absurde Idee der alten Idole, die nur dazu gedient haben, uns als schwach, aufgedunsen und schmächtig zu deklarieren: Padilla, Gautier, Momo, Vidarte, Munoz (der zum Dichter gewordene Redner), De Diego (quietschende Okarina).

Es ist Zeit, auszurufen, daß sich in Puerto Rico die Morgendämmerung des zwanzigsten Jahrhunderts ankündigt und daß beim Bersten des mit Literatur geschwängerten Leibs der Vers herausspringt und ruft: »Fassen wir das Jahrhundert! Fassen wir das Jahrhundert!«

Der Dichter muß für die Menschheit ein Tonikum und kein Abführmittel sein. Whitman, Marinetti, Ugarte, Verhaeren, Dadaismus? Nein. Euphorismus!

Jugend, es ist Deine Stunde! Laßt uns schreien, laßt uns zerstören, laßt uns glauben. Schöpfer!

Zerbrechen wir die alten Formen, die Tradition! Vergessen wir die Vergangenheit, laßt uns nur für die leuchtende Gegenwart und die noch leuchtendere Zukunft Augen haben. Machen wir eine neue Geschichte, eine neue Tradition, eine neue Vergangenheit. Und die, die nach uns kommen, sollen zerstören wie wir, sollen erneuern! Erneuerung, das ist der Schlüssel!

Erinnern ist verfaulen, erstarren! Schließen wir unser Gedächtnis, diese Imitationsmaschine, diesen dummen Papageien, und öffnen wir unsere Einbildungskraft, um »neue Dinge unter der Sonne« zu machen! Willkommen der Schwindel, die Gefahr, die Verrücktheit.

Wir fassen zusammen:

1 - Wir erklären die Metrik für unnütz, weil wir glauben, daß die Poesie nichts als die Synthese von Empfindung und Vorstellung ist.

2 - Laßt uns unseren Protest gegen die Vergangenheit und die Frau erheben.

3 - Laßt uns den Vers in der treffenden Zeile, der grellen Farbe, der barbarischen und brutalen Liebe, dem Schwindel, dem Schrei und der Gefahr verherrlichen.

4 - Laßt uns ein tiefes und starkes Gefühl in all dem erkennen, was uns umgibt, und das vergessen ist, weil es uns zur Seite steht: in der Armut, im erloschenen Schmerz, in den gewöhnlichen Dingen.

5 - Verkünden wir den spontanen Vers, voller Fehler, rauh und roh, aber ehrlich. Es lebe die Maschine, der Schlüssel, der Riegel, die Schraubenmutter, die Säge, der Vorschlaghammer, der Lastwagen, der rechte Arm, das Hotelzimmer, das Wasserglas, der Pförtner, das Taschenmesser, das Delirium tremens, der Fußtritt und der Applaus!

Es leben die Verrückten, die Mutigen, die Flugzeuge, die Flachdächer und die Jazz-Band!

Nieder mit den romantischen Frauen, den langhaarigen Dichtern, den heulenden Kindern, den Walzern, dem Mond, den Jungfrauen und den Ehemännern!

Mutter Wahnsinn, kröne uns mit Blitzen!

Tomás L. Batista
Vicente Pales Matos

   - Nach: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938). Hg. Wolfgang Asholt, Walter Fähnders. Stuttgart Weimar 1995

 

Avantgarde Euphorie

 

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