ssiggurke   Meine Seligkeit, ich sage das ohne Furcht, lächerlich zu erscheinen, meine Seligkeit war grenzenlos, als sie mir gestattete, sie in eine nahegelegene Charcuterie zu geleiten, wo sie kleine Essiggurken zu besorgen hatte. Sie begleitete das mit dem Kommentar, daß sie, wie alle Tage, mit ihrer Mutter zu Abend äße und daß sie beide eine Mahlzeit ohne diese Beigabe nicht richtig zu schätzen wüßten. Ich sehe die Charcuterie wieder vor mir und mich, wider alles Erwarten, auf einmal versöhnt mit dem Alltag. Es ist gewiß gemütlich, es ist sogar unsäglich angenehm, mit jemandem, der einem nicht völlig gleichgültig ist, zu speisen, kleine Essiggurken zum Beispiel. Dieses Wort durfte hier nicht fehlen. Das Leben besteht nicht zuletzt aus diesen unscheinbaren Gewohnheiten, es ist auf die kleinen Schwächen angewiesen, die man hat, die man nicht hat. Es war ein Tag, an dem haben die kleinen Essiggurken Vorsehung für mich gespielt. Ich weiß schon, diese Überlegungen sind nicht nach jedermanns Geschmack, aber sicherlich hätten sie Feuerbach nicht mißfallen, und das genügt mir. (Ich habe wohlgemerkt viel für die Schriftsteller des Naturalismus übrig: läßt man einmal ihren Pessimismus beiseite — sie sind wirklich zu pessimistisch — so sind es nach meinem Dafürhalten die Einzigen, die derlei Situationen etwas abzugewinnen wußten. Ich finde sie, alles in allem, viel poetischer als die Symbolisten, ihre Zeitgenossen, die keine Anstrengung scheuten, dem Publikum mit ihren mehr oder weniger rhythmisierten Produkten in den Ohren zu liegen. Zola fehlte es wahrhaftig nicht an Vitalität; die Goncourt, bei denen man nur noch an ihre unausstehlichen Ticks zu denken geneigt ist, hatten durchaus einen Blick, ein Gefühl für die Dinge; und vor allen anderen Huysmans, der wirklich groß war, bis er dann im schlammigen Un-grund von Unterwegs versank: auch hätte man allen Grund, den Schriftstellern von heute die fast vergessenen Bücher von Robert Caze trotz aller ihrer Mängel als ein Muster an Redlichkeit zu empfehlen. Nur Alphonse Daudet hat sich, wie das Kleinbürgertum seiner Epoche, dessen Sprachrohr er unverkennbar war, in jeder Beziehung als niederträchtig, abstoßend, verächtlich erwiesen. All das kann mich übrigens nicht von der Überzeugung abbringen, daß diese Schriftsteller — einmal abgesehen von der Frage des Talents, auf die ich zurückkommen werde — sich völlig und in allem vergriffen haben.) Die kleinen Essiggurken sind jetzt in der Tüte, wir können gehen. Noch nie ist mir die Zeit so rasch vergangen. Wiederum ist für mich der Boulevard wie ausgestorben, so sehr horche ich, so sehr hänge ich an diesem lächelnden Mund, von dessen apodiktischem Schiedsspruch abhängt, ob ich leben darf oder ob ich wieder nicht wissen werde, wie ich morgen leben soll.  - André Breton, Die kommunizierenden Röhren. Frankfurt am Main 1988 (zuerst 1932)
 
 

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