Balthasar
Gracian, Hand-Orakel
Ertragen (2) Warum, sagte er, warum sollte man das Leben
nicht ertragen, da doch ein Nichts schon genügt, es
einem zu nehmen? Ein Nichts bringt es, ein Nichts beschwingt es, ein Nichts
bezwingt es, ein Nichts vollbringt es. Wenn das nicht wäre, wer konnte da die
Schicksalsschläge ertragen und die Demütigungen einer glanzvollen Karriere,
die Betrügereien der Lebensmittelhandler, die Preise der Fleischer, das Wasser
der Milchhändler, die Aufregung der Eltern, die Wut der Lehrer, das Gebrüll
der Feldwebel, die Schändlichkeiten der Besitzenden, die Wehklagen der Vernichteten,
das Schweigen der unendlichen Räume, den Geruch des Blumenkohls oder die Passivität
der Holzpferdchen, wenn man eben nicht wußte, daß der schlechte und höchst fruchtbare
Lebenswandel einiger winziger Zellen (Gebärde) oder die Bahn einer Kugel, die
ihr vorgeschrieben wird von einem unfreiwillig verantwortungslosen Anonymus,
alle diese Sorgen unversehens im Blau des Himmels verdampfen läßt.
-
Raymond Queneau, Zazie in der Metro. Frankfurt am Main 1999 (zuerst 1959)
Ertragen (3) »Warum Gemeinheiten
ertragen werden, ist mir immer noch nicht klar. Vielleicht aus Klugheit und
Menschenverachtung, das ist möglich. Du beispielsweise«, hatte er sich Eugen
zugewendet, »hast dich wahrscheinlich in dieser Richtung trainiert, wenn ich
so sagen darf. Vielleicht ist's sogar gut gewesen, daß niemand an dich geglaubt
hat. Und du hast für dich gegrinst, wenn du gespürt
hast: sie verachten dich.« Worauf Eugen geantwortet hatte, dann brauche er sich
jedenfalls bei niemanden zu bedanken. - Hermann Lenz, Herbstlicht. Frankfurt
am Main 2000
Ertragen (4) Nazarov
traf ich zum ersten Mal in Moskau, im Restaurant »Volna« im Karetnyjrjad.
Er trank Bier, hörte auf die Maschine und antwortete mir ruhig, fast träge
auf meine Fragen: »Meiner Ansicht nach muß man sie alle mit der Bombe...
Es gibt kein Recht auf Erden... Sie sehen doch, während des Aufstands,
wieviel Leute aus dem Volk haben sie da umgebracht. Die Kinder irren in
der Welt herum... Kann man denn das noch aushalten? Dann halts eben aus,
wenn du willst, ich kann es nicht.« - Boris Savinkov,
Erinnerungen eines Terroristen. Nördlingen 1985 (Die Andere Bibliothek,
zuerst 1917/18)
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