rraten  Mir ist oftmals der Gedanke gekommen, daß es diese Dogmatiker von vor 1000 Jahren, eigentlich doch in Verlegenheit gebracht haben müßte zu bestimmen, auf welchem ihrer 2 gepriesenen Wege, der Entzifferer einer der komplizierteren Geheimschriften zu ihrer Lösung gelange — oder auf welchem von beiden CHAMPOLLION die Menschheit zu jenen wichtigen & unzählbaren Wahrheiten hinführte, die so lange Jahrhunderte hindurch in den Phonetischen Hieroglyphen Ägyptenlands wie eingesargt gelegen hatten. Und, ganz speziell: würde es jenen blinden Eiferern nicht einige Mühe bereitet haben, festzulegen, auf welchem ihrer 2 Wege die folgenreichste & sublimste aller ihrer Wahrheiten — die Wahrheit — das Faktum der Gravitation gefunden worden sei?

NEWTON leitete sie aus den KEPLERschen Gesetzen ab. Kepler gab an, daß er diese Gesetze erraten habe — diese Gesetze, deren Untersuchung dem größten der Britischen Astronomen jene Grundkraft aufdeckte, die Basis aller (existierenden) physikalischen Prinzipien, hinter der, wer noch weiter gehen will, sogleich das neblige Reich der Metaphysik betritt. Ja! — diese allwesentlichen Gesetze erriet Kepler — dh er imaginierte sie. Hätte man ihn aufgefordert, entweder die deductive oder aber die inductive Route anzugeben, auf der er ihrer habhaft geworden sei, seine Antwort möchte gelautet haben —: ‹Ich weiß nichts von Routen, aber wovon ich jetzt etwas weiß, das ist das Räderwerk des Universums. Hier ist es. Ich begriff es mit meiner Seele, ich erfaßte es bloß vermittelst der Intuition.› Weh des armen unwissenden alten Mannes! Gab es denn keinen Metaphysikus, der ihn hätte belehren können, wie das, was er ‹Intuition› heiße, nichts als eine Überzeugung sei, hervorgegangen aus Deduction oder Induction, deren Ineinandergreifen so schattenhaft erfolge, daß es seinem Bewußtsein entgangen wäre, seiner Aufmerksamkeit sich entzogen hätte, oder eben auch einfach seine Fähigkeit der Darstellung überstiege?  - Edgar Allan Poe, Heureka. Nach (poe)

Erraten (2) Ich kannte einen Schuljungen von etwa acht Jahren, der durch seine Erfolge im Raten beim Spiel ‹Grad oder Ungrad› breiteste Bewunderung erregte. Das Spiel ist ganz simpel; man nimmt dazu nur ein paar Murmeln. Ein Spieler hält eine Anzahl dieser Dinger in der Hand und fragt einen andern, ob diese Zahl grad oder ungrad sei. Wenn richtig geraten wird, gewinnt der Rater eine Murmel; wenn falsch, verliert er eine. Der Junge nun, den ich meine, gewann alle Murmeln der Schule. Natürlich hatte er beim Raten ein System; und dieses bestand darin, daß er einfach die Gewitztheit seiner Gegenspieler beobachtete und abschätzte. Nehmen wir einmal an, er hat einen heillosen Einfaltspinsel zum Gegner, und der hebt die geschlossene Hand und fragt: ‹Grad oder ungrad?› Unser Schuljunge erwidert ‹ungrad› und verliert; doch beim zweiten Versuch gewinnt er, denn da sagt er sich - ‹Beim erstenmal hatte der Dummkopf eine gerade Zahl, und seine Schlauheit reicht nun eben dazu aus, ihn beim zweitenmal eine ungerade wählen zu lassen; darum werd' ich auf «ungrad» raten›; - er tut es und gewinnt. Bei einem Bürschchen nun, das einen Grad schlauer als das erste ist, würde er die folgende Überlegung angestellt haben: ‹Dieser Tölpel weiß, ich habe beim erstenmal «ungrad» geraten, und so wird er sich jetzt, im ersten Impuls, einen einfachen Wechsel von grad auf ungrad vornehmen, wie's der andere Simpel eben tat; aber dann wird ihm ein zweiter Gedanke sagen, daß das eine zu einfältige Variation wäre, und schließlich wird er sich entscheiden, wieder grad zu wählen wie zuvor. Also werd' ich jetzt auf «grad» raten›; - er tut es und gewinnt. Was eigentlich geht da nun im Kopf des Schuljungen vor sich, den seine Kameraden einen ‹Glückspilz› nannten, - woraus besteht seine Denkarbeit, wenn wir sie aufs letzte analysieren ?»

«Sie besteht ganz einfach darin», sagte ich, «daß er sich mit dem Intellekt seines Gegenspielers identifiziert.»

«Genau», sagte Dupin; «und als ich den Jungen ausforschte, mit welchen Mitteln er diese gänzliche Identifizierung zuwege brächte, auf der sein Erfolg beruhte, erhielt ich die folgende Antwort: ‹Wenn ich herausfinden will, wie schlau oder wie dumm, wie gut oder wie böse jemand ist, oder was ihm im Augenblick so durch den Kopf geht, dann passe ich meinen Gesichtsausdruck so getreu als möglich dem seinigen an und warte einfach ab, welche Gedanken oder Empfindungen nun mir im Kopf oder im Herzen aufsteigen - gleichsam paßgerecht dazu, in Übereinstimmung mit diesem Ausdruck.» - Edgar Allan Poe, Der stibitzte Brief. Olten 1966 (zuerst 1845, Übs. Arno Schmidt)

Erraten (3)  Das Krokodil hat das Baby geraubt, und die ängstlich um dessen Sicherheit besorgte Mutter bittet inständig darum es zurückzubekommen. Das Krokodil, dessen Redlichkeit vorausgesetzt wird, führt aus, daß die Mutter ihr Kind dann zurückbekommen wird, wenn sie richtig vorhersagen kann, welches Schicksal es dem Baby zugedacht hat - ob es das Baby fressen oder zurückgeben wird. Errät sie seine Absichten jedoch falsch, dann wird das Baby verschlungen werden. Die Mutter behauptet, daß das Krokodil das Kind verschlingen wird, worauf das Krokodil erwidert, daß es das Baby jetzt nicht zurückgeben könne, denn würde es das tun, dann hätte sie falsch vorhergesagt, und in diesem Fall sei der Tod des Babys ja beschlossene Sache. Die Mutter erweist sich dem verschlagenen Reptil trotz ihres Kummers als ebenbürtig: denn, so führt sie aus, wenn das Krokodil das Baby fräße, dann hätte sie ja richtig vorhergesagt und in diesem Fall sollte sie laut Abmachung das Baby zurückbekommen! - Alice im Wunderland der Rätsel. Hg. John Fisher. dtv 10915, 1988, zuerst 1973 (The Magic of Lewis Carroll)

Rätsel
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