rfrischung
»das fallbeil«, so sagte dr. guillotin viele jahre später, »tut dem delinquenten
nicht weh. es verschafft nur das gefühl einer leichten erfrischung am hals.«
- Nach: Konrad Bayer, Der Kopf des Vitus Bering. Frankfurt am Main
1971 (zuerst 1965)
Erfrischung (2) GRÜNDE, UM GLUCKLICH ZU LEBEN Man sollte allen Gedichten diesen Titel geben können: Gründe, um glücklich zu leben. Für mich wenigstens ist jedes von denen, die ich schreibe, wie eine Notiz, die ich mir zu machen versuche, wenn aus einer Meditation oder Betrachtung in meinem Körper die Rakete einiger Worte aufschießt, die ihn erfrischt und ihn den Entschluß fassen läßt, ein paar Tage weiterzuleben. Wenn ich mich noch mehr in die Analyse vertiefe, so finde ich, daß überhaupt kein anderer Grund zu leben vorhanden ist, als weil es zunächst die Gabe der Erinnerung und die Fähigkeit zu verweilen gibt, um die Gegenwart zu genießen, was einen dazu bringt, diese Gegenwart zu betrachten, wie man die Erinnerungen zum erstenmal betrachtet: das heißt, sich den mutmaßlichen Genuß eines dafür bestehenden Grundes in frischem, das heißt rohem Zustand aufzuheben, wenn er gerade entdeckt wird inmitten der einmaligen Verhältnisse, die ihn in der nämlichen Sekunde umgeben. Dies ist der Beweggrund, der mich zum Bleistift greifen läßt (vorausgesetzt, daß man einen Grund zweifellos nur deshalb aufbewahren möchte, weil er praktisch ist wie ein neues Werkzeug auf unsrer Werkbank). Und jetzt muß ich noch sagen, daß das, was ich einen Grund nenne, für andere eine einfache Beschreibung oder Berichterstattung sein kann, oder eine gleichgültige und unnütze Schilderung. Auf folgende Weise werde ich mich rechtfertigen: weil die Freude mir durch die Betrachtung gekommen ist, kann mir die Wiederkehr der Freude sehr wohl durch die Schilderung gegeben werden. Diese Wiederkehr der Freude, diese Erfrischung im Gedenken an die Gegenstände der Wahrnehmung ist genau das, was ich Gründe, um zu leben, nenne.
Wenn ich sie Gründe nenne, so deshalb, weil sie die Rückkehr des Geistes
zu den Dingen sind. Nur der Geist kann die Dinge
erfrischen. Vermerken wir außerdem, daß die Gründe nur richtig oder gültig
sind, wenn der Geist zu den Dingen in einer den Dingen annehmbaren Weise
zurückkehrt: wenn sie nicht beschädigt und sozusagen von ihrem eigenen
Standpunkt aus beschrieben werden. -
(lyr)
Erfrischung (3)
Ein Mann war eifrig damit beschäftigt, in den unbenutzten Kabinen
herum den Boden aufzuwischen. Der Laden war überraschend sauber, und außer dem
Ammoniakgeruch des Wischwassers, mit dem nach jeder Benutzung die Kabinen gereinigt
wurden, war kein weiterer Geruch wahrzunehmen. Ich schloß die Holztür hinter
mir, setzte mich behutsam auf den Hocker und steckte eine Münze in den Schlitz.
Ein Holzgatter glitt nach oben und öffnete so ein kleines Fenster, etwa so groß
wie ein Bullauge. Eine träge, schwergewichtige Puertoricanerin
befand sich mitten in einem Striptease. Ihren BH hatte sie bereits ausgezogen,
und jetzt drehte sie sich langsam um eine Stange, an der sie sich mit einer
Hand festhielt, während sie mit der anderen am Gummizug ihres Slips zerrte.
Sie war nicht gerade attraktiv - sie war sogar regelrecht häßlich. Ihr Bauch
wölbte sich weiter vor als ihre Brüste, und ihr Gesicht zeigte Ansätze zu Schnurrbart
und Bart. Die Schenkel waren mit dicken Krampfadern übersät, und die Augen waren
blutunterlaufen und verquollen wie die Augen einer Drogenabhängigen. Nach wenigen
Sekunden glitt die Holzscheibe wieder über das Fenster. Ich warf eine weitere
Münze ein. Als die Münzen aufgebraucht waren, wechselte ich zwei weitere Dollars
und fütterte die Münzen ebenfalls in den Schlitz. Ich konnte einfach nicht genug
bekommen. Die Frau erregte mich nicht, aber ich fand es unglaublich erfrischend,
einen mir neuen, nackten Körper zu sehen, irgendeinen neuen nackten Körper.
Julie war viel hübscher als diese Frau, keine Frage, doch Julie hatte ich schon
tausendmal gesehen, aber eine andere nackte Frau live seit Jahren nicht
mehr. -
Jason Starr, Top Job. München 2006 (SZ Kriminalbibliothek 31)
Erfrischung (3)
Erfrischung (4)
»Da wäre er nun aufgewacht«, sagte eine Stimme von der Türe her
zum Kommissär, der nach dem vergitterten Fenster starrte. Ins Zimmer, das sich
immer mehr mit einem nebligen, schemenhaften Morgen füllte, trat im weißen Ärztekittel
ein altes Weib, wie es schien, mit welken, verschwollenen
Zügen, in welchen Bärlach nur mühsam und mit Entsetzen das Antlitz der Ärztin
erkannte, die er mit Emmenberger im Operationssaal gesehen hatte. Er starrte
sie, müde und von Ekel geschüttelt, an. Ohne sich um den Kommissär zu kümmern,
streifte sie den Rock zurück und stieß sich eine Spritze durch den Strumpf in
den Oberschenkel; dann, nachdem sie die Injektion gemacht hatte, richtete sie
sich auf, zog einen Handspiegel hervor und schminkte
sich. Gebannt verfolgte der Alte den Vorgang. Er schien für das Weib nicht mehr
vorhanden zu sein. Ihre Züge verloren das Gemeine und bekamen wieder die Frische
und die Klarheit, die er an ihr bemerkt hatte, so daß, unbeweglich an den Türpfosten
gelehnt, nun die Frau im Zimmer stand, deren Schönheit ihm bei seiner Ankunft
aufgefallen war. - Friedrich Dürrenmatt, Der Verdacht. [Mit: Der Richter
und sein Henker] Zürich 1978
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