Erdwunde   So vergrößert, sah die Wunde aus wie jene Spalten oder Risse, die sich zuweilen in Lavafelsen finden und tatsächlich auch «Erdwunden» genannt werden; aber mit ihren Farben, Rot, Violett und sogar Schwarz, glich sie in nichts dem, was man bei den Felsen der Erde beobachten kann: eher den Blumen in den tropischen Wäldern. Klumpen von geronnenem, schwärzlichem Blut füllten den Boden der Spalte, durchzogen von helleren, fast gelben, faserig wirkenden Fäden, als ob das lebendige Fleisch ein neues Gewebe bilden wollte, das stark genug wäre, die beiden Seiten der Wunde fest miteinander zu verbinden. Dieser Festigungsprozeß wurde jedoch unterlaufen durch die Tätigkeit zahlloser weißer Würmer mit geringeltem Körper, einer winzigen rosa Mundöffnung und einer Pinzette oder einem schwarzen Zängchen am hinteren Ende; diese Würmer bewegten sich blindlings, schlängelten sich übereinander, benagten die schleimigen, blauvioletten Seiten der Wunde und zerrissen das neue gelbe Gewebe am Boden. Mit Hilfe ihrer Pinzetten gelang es einigen von ihnen, bis an die gezackten, von einer Art Schnur wie aus hart gewordenem Harz umsäumten Ränder hinaufzuklettern, und von dieser primitiven Brüstung aus lehnten sie sich mit der vorderen Hälfte ihres dicken, elastischen kleinen Körpers auf die schneeweiße Haut hinaus, zwischen die großen offenen Poren, jede mit ihrem blonden Haar wie das Gespenst eines in seiner Mulde vom Wind gebeugten Bäumchens; aber gleich darauf fielen sie wieder zurück, in den warmen bewegten Knäuel der offenen Wunde.  - J. Rodolfo Wilcock, Das Stereoskop der Einzelgänger. Freiburg 1995
 

Wunde

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