»Blind!« wiederholte Flambeau, und erhob sich langsam zu seiner ganzen Größe.
»Sie war das durch Vererbung«, fuhr Brown fort. »Ihre Schwester hätte Brillen getragen, wenn Pauline sie gelassen hätte; aber sie hatte nun mal die besondere Philosophie oder Macke, daß man solches Ungemach nicht ermutigen dürfe, indem man ihm nachgebe. Sie wollte die Wolke nicht eingestehen; oder sie versuchte, sie durch ihren Willen zu vertreiben. Und durch die Überanstrengung wurden ihre Augen schlechter und schlechter; aber die schlimmste Überanstrengung sollte noch kommen. Sie kam mit diesem kostbaren Propheten, oder wie immer er sich bezeichnet, der sie lehrte, mit bloßen Augen in die heiße Sonne zu starren. Das hieß Apollo empfangen. Ach, wenn diese neuen Heiden nur die alten Heiden wären, dann wären sie ein bißchen weiser! Die alten Heiden wußten, daß die reine Naturanbetung ihre grausamen Seiten hat. Sie wußten, daß Apollos Auge sengen und blenden kann.«
Nach einer Pause fuhr der Priester mit sanfter, ja gebrochener Stimme fort:
»Ob jener Teufel sie nun absichtlich blind machte oder nicht, es gibt keinen
Zweifel, daß er sie absichtlich durch ihre Blindheit ermordet hat. Die Einfachheit
des Verbrechens macht krank. Wie Sie wissen, fuhren er und sie in den Fahrstühlen
ohne Liftboy auf und ab; und Sie wissen auch, wie glatt und lautlos die Fahrstühle
gleiten. Kalon brachte den Fahrstuhl auf das Stockwerk des Mädchens und sah
sie durch die offene Tür in ihrer langsamen sichtlosen Weise das Testament schreiben,
das sie ihm versprochen hatte. Er rief fröhlich zu ihr hinüber, daß erden Lift
für sie bereitgestellt habe und daß sie kommen solle, sobald sie fertig sei.
Dann drückte er auf den Knopf und schoß lautlos hoch zu seinem Stockwerk, ging
durch sein eigenes Büro, hinaus auf seinen eigenen Balkon, und betete
in Sicherheit vor der überfüllten Straße, als das arme Mädchen, nachdem sie
ihre Arbeit beendet hatte, fröhlich aus der Tür lief,
wo Liebhaber und Lift sie erwarteten, und sie trat — «
- G.K. Chesterton, Das Auge Apollos. In: Ders., Father Browns Einfalt. Zürich 1991 (zuerst 1911)
Allmählich indessen stellten sich Sehstörungen ein; als schreckliche Vorzeichen sah sie unerklärliche Blitze im Dunkeln über die Zimmerwände hinlaufen, sobald sie nicht mehr schlief.
Eines schönen Sommertags saß sie in ihrem großen Strohsessel, und als sie mittags in ihrem kleinen Garten die Rosen betrachtete, fühlte sie, wie sie erblindete. Die Rosen, die sie betrachtete, die Sonne, die sie eben noch gesehen hatte, wirbelten plötzlich ineinander, verschmolzen zu einer großen roten Scheibe, die selber bald vor ihr, zwischen ihren beiden Händen, auf ihren Knien in ewige Nacht versank.
Sie machte verzweifelte Anstrengungen, die Welt noch einmal zu erblicken;
sie war verschwunden. Fräulein Zéline rieb sich die Augen. Die Welt ist wie
ein Engel vor dem Antlitz des Gerechten. Sie rief sie zurück. Vergebens. Fräulein
Zéline blieb in der inneren Finsternis, ganz allein, nur noch am Leben. - Marcel Jouhandeau, Fräulein
Zéline oder Gottes Glück zum Gebrauch eines alten Fräuleins. In: M. J., Chaminadour. Reinbek bei Hamburg 1964
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