pidemie
In jenem Sommer, zwei Jahre vor dem Brand des Marktes, hatten wir eine Epidemie.
Gott bewahre uns vor dem, was damals geschah! Innerhalb von sieben Wochen starb
die halbe Stadt. Das Gras wuchs auf den Straßen. Heute sprach man noch mit jemandem
und er war munter und gesund, am nächsten Tag war er tot. Dr. Obo-lowski hatte
verboten, rohes Obst zu essen und ungekochtes Wasser zu trinken. Das hielt das
Sterben nicht auf. Wenn jemand Krämpfe bekam, so gab es nur ein Mittel, Beine
und Leib mit Wodka einzureihen. Aber wer sollte das Einreihen besorgen? Berührte
man einen Kranken, bekam man selber die Krämpfe. Nach einiger Zeit weigerte
sich Dr. Obolowski, die Kranken zu besuchen; nicht, daß ihm das geholfen hätte,
er starb auch und wenig später seine Frau. Der Apotheker schloß seine Apotheke.
Er zog sich in ein Dachzimmer zurück und niemand, außer der Köchin, die ihm
das Essen brachte, durfte zu ihm. Er konnte sich auch nicht retten. Auf der
anderen Seite gab es Waghalsige, die Wasser aus dem Brunnen tranken und unreife
Äpfel aßen und ihnen geschah nichts. Immerhin, die Eeute nahmen sich in acht.
Meine Lieben, erst jetzt lernte die Stadt Mendel schätzen. Er ging von Haus
zu Haus und massierte die Kranken mit Wodka. Starb jemand, so beförderte Mendel
ihn zum Friedhof. Die Hälfte des Beerdigungsvereins war in die bessere Welt
eingegangen und der Rest verkroch sich wie die Mäuse. Mendel wurde alles - Arzt
und Totengräber dazu. - Isaac Bashevis Singer, Der Totengräber. In: I.B.S., Leidenschaften.
Geschichten aus der neuen und der alten Welt. München 1993 (zuerst 1975)
Epidemie (2)
Epidemie (3) Die Verbrauchergesellschaft und ihre gehetzten Mitglieder hatten andere Sorgen. Es war zwar noch über einen Monat hin bis Weihnachten, aber die massive Weihnachtswerbung hatte begonnen, und eine hysterische Kaufwut breitete sich wie die schwarze Pest durch die girlandengeschmückten Einkaufsstraßcn aus. Jeder wurde von der Epidemie ergriffen, und es gab keinen Platz, wohin man sich zurückziehen konnte. Sie drang in Häuser und Wohnungen und erfaßte alles und alle. Die Kinder weinten vor Erschöpfung, und die Familienväter waren bereits bis weit in das neue Jahr hinein verschuldet. Die gesetzlich zugelassene Bauernfängerei hatte ihren Höhepunkt beinahe erreicht. Die Krankenhäuser verzeichneten ein Ansteigen von Herzinfarkten, Nervenzusammenbrüchen und Magengeschwüren.
Auf den Polizeiwachen der Innenstadt konnte man die Vorboten des großen Familienfestes in Gestalt von betrunkenen Weihnachtsmännern bewundern, die aus Hausfluren und öffentlichen Toiletten herangeschleppt wurden. Auf Mariatorget ließen zwei ermüdete Streifenbeamte einen volltrunkenen Weihnachtsmann in den Rinnstein fallen, als sie ihn in ein Taxi verfrachten wollten.
In dem einsetzenden Tumult wurden die beiden Polizisten von weinenden Kindern
und fluchenden, angetrunkenen Männern hart bedrängt. Einer der Beamten verlor
die Geduld, als ein Schneeball ihn mitten aufs Auge traf, und griff zum Gummiknüppel.
Schlug zu, ohne hinzusehen und traf einen neugierigen Rentner. - Sjöwall / Wahlöö, Endstation für neun. Reinbek
bei Hamburg 1980
Epidemie (4)
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