isenbahnreise  DER GROSSE Vorraum des Bahnhofs in Warschau hat eine hölzerne Abzäunung, viereckig, weit; drin hocken, liegen, sitzen unter dem unsicheren Licht schwarze Scharen von Menschen. Ein wunderbarer Anblick. Sie schlafen nach rückwärts gelehnt auf den Holzbänken, liegen über Säcken mitten im Raum, einer beim andern, das Gesicht nach unten. Sie schnarchen, seufzen. Einige essen schmatzend, schneiden sich Scheiben von großen Rundbroten ab mit Taschenmessern. Ich kämpfe mich zum Wilnaer Zug durch; auf diesem Zentralbahnhof will niemand von den Stationsbeamten, Schalterbeamten Deutsch verstehen. In den Zug steige ich ein. Ich sehe in der schwachen Beleuchtung keinen Schlafwagen. Es eilt, ich steige ein. Jetzt folgt ein stundenlanger, vergeblicher Kampf, in den Schlafwagen zu kommen. Ein Kampf ohne Sprache, denn ich bin mit Stummheit geschlagen. Erst sitze ich eine Viertelstunde neben einem Herrn, der abwesend eine Zeitung liest, dann tritt die Kontrolle ein, tritt in der Nacht noch mehrmals ein. Noch drei-, viermal werde ich aus dem Halbschlaf geweckt, um meine Karte vorzuzeigen. Jedesmal zeige ich zugleich meinen Schlafwagenschein, frage deutsch und französisch, wo, wo, wo der Schlafwagen sei, ob einer im Zuge laufe. Ich mache, bevor ich mich resigniert hinlege, eine Wanderung durch den Zug, stoße auf keinen. Die Schaffner geben mir jedesmal Schein und Billett wieder; meine gestikulierenden Hinweise und Fragen beachten sie nicht, man drückt mir einfach Billett und Schein wieder in die Hand. Im Coupé vollzieht sich dann eine mir vorher unbekannte Veränderung. Es kommen zwei Schaffner hinein, treten auf die Sitzpolster, ziehen an der Seitenwand: siehe da, sie ziehen rechts und links oben ein Lager heraus. Das ist nicht gepolstert. Der zeitunglesende Herr legt sich unten wagerecht auf sein Polster, ich ihm gegenüber. Über uns auf das blanke Tuch, von Metallstreben getragen, legen sich zwei fremde Leute, die überall suchend die Türen aufgerissen haben. Der eine ist ein Schaffner des Zuges. Ich staune über die sonderbaren Dinge. Daß sich in erster Klasse Männer mit Miststiefel hinlegen. Und was es in Polen für Schlafwagen gibt, nicht ein Stück Leinenzeug. Bis morgens schwanke ich, bin ärgerlich, erstaunt. Um dann in Wilno auf dem Bahnhof den schlanken schmucken Schlafwagen zu sehen. Er war ganz friedlich mitgelaufen. Meinen Schlafwagenschein habe ich nicht mehr vorgezeigt; ich hatte genug. - Alfred Döblin, Reise in Polen. München 1987 (dtv 2428, zuerst 1925)

Eisenbahnreise (2) Wir sind, mit dem irdisch befleckten Auge gesehn, in der Situation von Eisenbahnreisenden, die in einem langen Tunnel verunglückt sind, und zwar an einer Stelle, wo man das Licht des Anfangs nicht mehr sieht, das Licht des Endes aber nur so winzig, daß der Blick es immerfort suchen muß und immerfort verliert, wobei Anfang und Ende nicht einmal sicher sind. Rings um uns aber haben wir in der Verwirrung der Sinne oder in der Höchstempfindlichkeit der Sinne lauter Ungeheuer und ein je nach der Laune und Verwundung des Einzelnen entzückendes oder ermüdendes kaleidoskopisches Spiel.

Was soll ich tun? oder: Wozu soll ich es tun? sind keine Fragen dieser Gegenden. - Franz Kafka

Eisenbahnreise (3)  In einem Eisenbahnzug sitzen, es vergessen, leben wie zuhause, plötzlich sich erinnern, die fortreißende Kraft des Zuges fühlen, Reisender werden, die Mütze aus dem Koffer ziehn, den Mitreisenden freier, herzlicher, dringender begegnen, dem Ziel ohne Verdienst entgegengetragen werden, kindlich dies fühlen, ein Liebling der Frauen werden, unter der fortwährenden Anziehungskraft des Fensters stehn, immer zumindest eine ausgestreckte Hand am Fensterbrett liegen lassen. Schärfer zugeschnittene Situation: Vergessen, daß man vergessen hat, mit einem Schlage im Blitzzug allein reisendes Kind werden, um das sich der vor Eile zitternde Waggon anstaunenswert im Allergeringsten aufbaut wie aus der Hand eines Taschenspielers. - Franz Kafka, Tagebuch, 31. Juli 1917, nach: Hanns Zischler, Kafka geht ins Kino. Reinbek bei Hamburg 1996

Eisenbahnreise (4)  »Wir müssen zur Maschine hinüberklettern«, schrie der Zugführer dem jungen Mann ins Ohr, auch so kaum vernehmbar, und verschwand dann im Rechteck der offenen Türe, durch die man die hellerleuchteten, hin und her schwankenden Scheiben der Zugmaschine sah. Der Vierundzwanzigjährige folgte entschlossen, wenn er auch den Sinn der Kletterei nicht begriff. Die Plattform, die er betrat, besaß auf beiden Seiten ein Eisengeländer, woran er sich klammerte, doch war nicht der ungeheure Luftzug das Entsetzliche, der sich milderte, als der junge Mann sich der Maschine zubewegte, sondern die unmittelbare Nähe der Tunnelwände, die er zwar nicht sah, da er sich ganz auf die Maschine konzentrieren mußte, die er jedoch ahnte, durchzittert vom Stampfen der Räder und vom Pfeifen der Luft, so daß ihm war, als rase er mit Sterngeschwindigkeit in eine Welt aus Stein. - Friedrich Dürrenmatt, Der Tunnel. In: Weltuntergangsgeschichten. Von Poe bis Dürrenmatt. Zürich 1981 (zuerst 1952/1978)

Eisenbahnreise (5)   Londres-express  von dem Engländer Peter Loughran erzählt von der Eisenbahnfahrt eines Matrosen, der sich treiben läßt, und beschreibt das Celinesche Innenleben, das übrigens mit Saufereien, Kotzarien, Schlägereien und Mißgeschicken bevölkert ist und von Reflexionen begleitet wird, bei denen sich in bedauernswerter Weise Philosophie, Alkohol und finsterste Verzweiflung mischen. Es gibt Seiten mit Grübeleien über den tiefen Sinn zum Beispiel von Graffitis auf dem Klo, die man nicht überlesen sollte. Dem Helden gegenüber sitzt in seinem Abteil ein engelhaftes und anständiges junges Mädchen, mit Söckchen und allem drum und dran, und natürlich nimmt das eine schlechte Wendung. - Jean-Patrick Manchette, Chroniques. Essays zum Roman noir. Heilbronn 2005 (DistelLiteraturVerlag, zuerst 1996)
 

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