Eintopf  Sie musterte mich ziemlich kritisch von Kopf bis Fuß und dann vom Fuß bis Kopf und sagte endlich, wie zu sich selbst: »Alt wie Moses, häßlich wie Seth, zäh wie ein Schuh und nicht mehr Verstand als ein Kegel. Aber immerhin, Fleisch ist knapp, deshalb spring herein.«

»Was?« fragte ich, in der Hoffnung, nicht recht verstanden zu haben. Sie nickte ernst und zeigte mit dem langen, hölzernen Löffel in die Suppe. »Spring in die Brühe, Fleisch ist knapp in dieser Jahreszeit.«

Ich schwieg erstarrt und sah, wie sie eine Mohrrübe und zwei Zwiebeln schälte und in den dampfenden Topf warf. Ich war nie so vermessen gewesen, einen glorreichen Tod zu ersehnen, doch hatte ich es auch nie in meine Überlegungen einbezogen, als Bouillon zu enden. Etwas lähmend Finsteres lag in der Lässigkeit, mit der sie das Gemüse schälte, das meine Brühe gehaltvoller machen sollte.

Dann, während sie das Messer auf dem Steinboden wetzte, näherte sie sich mir mit freundlichem Lächeln: »Keine Angst«, sagte sie. »Warum auch, es wird nur einen Moment dauern, und überhaupt, es ist doch deine eigene Entscheidung. Niemand hat dich gezwungen, hier herunter zu kommen, oder?«

Ich versuchte zu nicken und mich zur gleichen Zeit zu entfernen, aber meine Kniee zitterten so sehr, daß ich mich wie ein Krebs, statt zur Treppe, näher und näher zum Kessel hinschob. Als ich in ihrer Reichweite war, stieß sie plötzlich die Messerspitze in meinen Rücken, und mit einem Schmerzensschrei sprang ich geradewegs in die kochende Suppe. In äußerster Todesangst erstarrte ich mit meinen Leidensgenossen, einer Mohrrübe und zwei Zwiebeln.

Mächtiges Dröhnen ertönte, gefolgt von lautem Gepolter - und siehe da, ich stand außerhalb des Kessels und rührte die Suppe, in der ich mein eigenes Fleisch, mit den Beinen nach oben, wie einen ganz gewöhnlichen Braten lustig kochen sehen konnte. Ich fügte eine Prise Salz und einige Pfefferkörner hinzu und löffelte zum Probieren eine Portion in meine Granitschüssel. Die Suppe war nicht so gut wie eine Bouillabaisse, aber es war guter, normaler Eintopf, genau das Richtige für das kalte Wetter.  - (hoer)

Eintopf (2)  Untersuchungen haben ergeben, dass insbesondere das Vokabular des Nationalsozialismus vom Nervenleidenden völlig anders verstanden und ausgelegt wird als allgemein gedacht. Der Nervenkranke setzt in seiner jdiosynkratischen und geschichtsfremden Interpretation die in diesem Vokabular vorhandenen manipulativen Kräfte frei. Ein Beispiel unter vielen: das Wort Eintopf. Der Nervenkranke wird durch getrennt aufgetragene Gerichte verunsichert. Die Anforderung, Hauptgericht, Vorspeise und Nachtisch zu unterscheiden, lässt seine Aufmerksamkeit diffundieren und führt zu einer Beschäftigung mit den Begriffen selbst und deren Zuordnung, die dem Appetit nicht förderlich ist. Getrennt aufgetragenen Gerichten, die oft selbst noch einmal in Fleisch und Beilagen unterteilt sind, den Eintopf entgegenzusetzen, beruhigt den Nervenkranken. Dieses Gericht mit einem Wochentag zu koppeln und einen Eintopfsonntag einzurichten, wo sich gerade am Sonntag die Gerichte in mehrere Bestandteile aufzulösen drohen und in der Regel nach dem Gottesdienst eingenommen werden, der mit seinem Ritus der Kommunion selbst wieder auf die Komplexität und Symbolkraft der Nahrungsaufnahme verweist, vermittelt dem Nervenkränken zusätzlich ein Gefühl der Orientierung, das durch die Festlegung der Eintopfsonntage für die jeweils zweiten Sonntage der Monate Oktober bis März noch verstärkt wird. Dass man diese Orientierung durch die Zulassung von drei Eintopfgerichten (1. Löffelerbsen mit Einlage; 2. Nudelsuppe mit Rindfleisch; 3. Gemüsetopf mit Fleischeinlage) wieder zu verunklaren schien, wurde durch die genaue Festlegung der Eintopfgerichte (zu Löffelerbsen als Einlage entweder Wurst, Schweineohr oder Pökelfleisch etc.) wieder aufgehoben. Zweideutig und deshalb je nach Gemütslage bestärkend oder verwirrend für den Nervenkranken wirken hingegen Plakate mit der Aufschrift »80 Millionen eint das Eintopfessen«, da es einerseits durchaus beruhigend wirken kann, 80 Millionen auf einen Nenner zu bringen, andererseits jedoch genauso beunruhigend, wenn man diese Zahl zusammen mit den entsprechenden Tellern, den Tischen, auf denen diese Teller stehen, und so Weiter visualisiert. Der Nervenkranke würde sich deshalb für das Plakat: Am Sonntag mit dem Führer Eintopf« entscheiden, weil der Führer eine eindeutige Orientierung vermittelt, aber auch weil es ihn an den Schlager Am Sonntag will mein Süßer mit mir Segeln gehn erinnert. - (raf)
 
 

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