Einschulung   Der kleine König war stocksauer. »Ich gehe nicht zur Schule. Was glaubst du denn, warum ich ein chino de la calle geworden bin? Ich hätte auch zu den Priestern laufen können. Die hätten mich adoptiert, Papi. Aber ich habe geschworen, niemals neue Kleider anzuziehen und das Alphabet zu lernen. Das Alphabet ist Scheiße

»Ob's dir nun gefällt oder nicht: Du wirst zur Schule gehen.«

Rudolfo zog eine Rasierklinge aus seinem Ärmel.

»Schneide mich doch, kleiner Mann«, sagte Ruben. »Ich werde mich nicht wehren.« Und er sah Rudolfo mit einer solchen Enttäuschung an, dass der kleine König fast geweint hätte.

Er zog die Kleider an, die Taita für ihn zurechtgelegt hatte. Er putzte sich die Zähne und kämmte sich das Haar.

»Schickst du mich in die Schule hinter dem Palast?«

»Nein«, sagte Ruben. »Die ist für die ricos.«

»Aber ich lebe hier, Ich bin ja fast so was wie dein Adoptivsohn.«

»Du bist ein Mörder.«

»Du auch.«

»Ich habe getötet, wenn ich musste. Das war mein Geschäft.«

»Ich hatte auch meine Geschäfte, als ich noch König der calles war.«

»Aber wir sind in Bogotà. Und hier mag man kein Königtum aus einer anderen Stadt.«

Ruben zog Rudolfo nur auf, der in der Welt der chinos de la calle der mit Abstand berühmteste chino war.

Begleitet von einer badolera Fernsehkameras stiegen sie in einen kugelsicheren Bus, fuhren an den südlichen Stadtrand von Babylon und parkten am Rande eines Slums namens Villa Victoria, eines Stadtteils auf einem Berg, der aus schmutzig braunen Scheunen und kleinen Papierpalästen bestand.

In der Schule gab es zwanzig Stühle und dreihundert Kinder. Eine Tafel oder Bücher waren hier unbekannt.

»Papi, ich glaube, ich werde mich in deine Schule verlieben.«

Rudolfo nahm seinen Platz unter den dreihundert Kindern ein, die seit dem Augenblick seiner Ankunft wie elektrisiert waren.

»Der kleine König«, raunten sie, »der kleine König.« Taita bedeutete ihnen nichts. Er war nur irgendein Minister. Aber über Rudolfos frühere gallada hatten sie schon Legenden gehört.

Die Kameras saugten die ganze Szene begierig auf: Rudolfe, die anderen Kinder, die Schule und den Lehrer, ein Jurastudent, der ehrenamtlich in Villa Victoria arbeitete.

Als Rudolfo an der Reihe war, seinen Namen zu buchstabieren, sagte er einfach: »Kann ich nicht.«

»Dann verrate mir deine Initialen.«

»Kann ich auch nicht.«

Und die Kameras zeichneten Rudolfos bemerkenswerte Miene auf, eine Mischung aus Trotz und Angst, wie das ganze Land mit sich selbst beschäftigt und gequält. Dieses Gesicht erschien in den Abendnachrichten. Und niemand konnte sagen, wie es geschah, aber mit einem Mal tauchten chinos de la calle in den Schulen aller barrios ganz Kolumbiens auf. Diese Kinder besaßen keine Fernseher; vielleicht hatte das Gerücht die Runde gemacht, dass sich der kleine König dem Schulsystem von Bogotà ergeben hatte.   - Jerome Charyn, Der Tod des Tango-Königs. Zürich 2000

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