Einschätzung, juristische    Im Entschuldungs-Labyrinth der Psychiatrie drohte der Höllensturz ins unbegrenzt Innerliche mit all seinen zeitlosen Martern. Demgegenüber würde mich die gesetzliche Strafe in der weltlich rauhen Ordnung festhalten, ohne mir den Sinn für Schuld und Sühne zu verderben.

Die Wirklichkeit sah nun aber etwas nüchterner und einfältiger aus. Zwar entschied der Untersuchungsrichter, daß ich bis zu Prozeßbeginn auf freien Fuß gesetzt sei und nirgends eingeliefert würde. Zugleich aber erfuhr ich zu meiner bitteren Enttäuschung, daß das Gesetz mein Vergehen auf das verächtlichste behandelte, indem es hierin nur den niedrigen Tatbestand der >Sachbeschädigung< erkannte. In gar keinem Falle war also mit einer Gefängnisstrafe zu rechnen, da ich weder vorbestraft war noch in krimineller Absicht gehandelt hatte. Das Ärgste, was ich überhaupt zu erwarten hatte, waren ein paar tausend Mark Geldbuße. Diese Aussicht bedrückte mich sehr. Auch das amtliche Gutachten der Gerichtspsychiatrie, das meinem Verteidiger zugestellt wurde, schien meine schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Hier wurde mit allen Mitteln versucht, meine Schuldunfähigkeit nachzuweisen. Der Verfasser erging sich in den seltsamsten Tiefendeutungen, er war regelrecht vernarrt in meinen Wahn oder das, was er dafür hielt. Meine eigenen Aussagen, meine offen dargelegten Motive fanden dabei keinerlei Berücksichtigung. Zahlreiche Beispiele aus der Geschichte der Kunstattentate wurden angeführt, die religiöse Symbolik solcher Akte hervorgehoben, von Hostienschändung und Bilderstürmerei, von Image- und Idoltötung war die Rede, von der Zerstörung der >falschen Bildnisse<, und es wurde sogar die Geltungssucht des Herostratos bemüht, der den Tempel zu Ephesos in Brand gesteckt hatte. Unter all den erwähnten Motiven und Regungen konnte ich meine eigenen und eigentlichen aber nicht erkennen. Ich hatte weder aus Ruhmsucht noch aus Glaubensfanatismus gehandelt. Ich war mit einem fremdartigen Zeit-Maß zusammengestoßen und hatte mich dagegen zur Wehr setzen müssen. Das war alles.   - Botho Strauß, Der junge Mann. München 1984

Einschätzung

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

VB

Synonyme