ingriff   Ohne Zögern schritt er auf das zu, was man den Kopf des Hundertfüßlers nennen könnte, die Stelle des Panzers, die drei Platten aus Hornhaut trägt. Sie ermöglichen es dem Tier, sich zu orientieren und die Hindernisse mittels einer elektrischen Ausstrahlung zu umgehen. Sie ersetzen ihm Augen, Ohren, Tast-, Geschmacks- und Geruchssinn zugleich.

Er hatte die Anatomie der Hundertfüßler bis ins kleinste auf den Aufnahmen studiert, die man von dem einzigen zerstückelten Exemplar angefertigt hatte, und als er sich daran begab, ein Loch zu bohren, irrte er sich nicht in der Stelle. Übrigens hatte er ein vollständiges Medizinstudium absolviert und besaß somit eine ausgezeichnete Vorbildung, um eine solche Arbeit durchzuführen, auch wenn eine Lehre als Bergarbeiter geeigneter gewesen wäre als die eines Chirurgen, wenn es darum geht, einen Berg zu operieren. Mehrmals versuchte er es mit schwachen Sprengstoffladungen, die das Tier aber nicht aufweckten. Einen Augenblick lang fürchtete er, es könnte tot sein, so unbeweglich war es, doch seine Temperatur lag mehrere Dutzend Grad über der der Umgebung, und diese Furcht war unbegründet. Schließlich hatte er einen Brunnen ausgehoben, der ungefähr zwei Meter tief und einen Meter breit war, und je tiefer er vordrang, desto leichter wurde seine Arbeit, denn er gelangte in die lebenden Gewebe des Tieres, die eine faserartige Struktur besaßen und eine weiche Beschaffenheit. In Wirklichkeit handelte es sich nur um Schichten, die dazu dienten, den Organismus des Hundertfüßlers gegen die äußeren Bedingungen zu isoHeren, allein die Tatsache, daß er sie erreicht hatte, gab ihm neue Kraft.

Dann begann er mit chirurgischer Genauigkeit zu operieren. Er wollte einen Fremdkörper in das Nervensystem des Hundertfüßlers einführen, derart, daß er seinen Schlaf und seine Bewegungen kontrollieren konnte. Die Geschicklichkeit, die er dabei an den Tag legte, war märchenhaft. Er wußte, daß das Nervensystem der Hundertfüßler nichts mit dem unseren gemein hat, daß chemische Prozesse mitspielen, die unserem Körper unbekannt sind, aber es gelang ihm, gewisse Hauptverbindungen zu bestimmen und sie zu zerstören, so daß der Hundertfüßler seiner Gnade ausgeliefert war. Dabei kamen ihm die schwache Komplexität des Nervensystems des Hundertfüßlers sowie seine große Ausdehnung zustatten, die eine fast geographische Ortung seiner Hauptnervenstränge ermöglichten. Er verglich sich selber »jenen Insekten, denen es gelingt, eine mehrfach so große Larve unschädlich zu machen, um sie ihrer Nachkommenschaft als Weide zu hinterlassen«.

Doch er war kein Insekt, und ihn leiteten nicht Jahrmillionen alte Instinkte. Er mußte selber erfinden, er konnte sich zwar der Erfahrung anderer Menschen bedienen, aber nur ihrer Worte und Zeichnungen, nicht ihres Gedächtnisses oder ihrer Gebärden. Das Spiel, das er spielte, war ungeheuer gefährlich, und er wußte es. Als er seine Stahlklinge in die Bewegungszentren des Hundertfüßlers stieß, um ihn zur Unbeweglichkeit zu verdammen, »erzitterte das Tier, und es war, als würde ein Erdstoß den Hügel erschüttern, auf dem ich mich befand. Ich stieg so schnell wie möglich aus dem Brunnen, in dem ich Gefahr lief, eingeklemmt und erdrückt zu werden. Ich klammerte mich an die Schuppen und an einige Pflöcke, die einzuschlagen ich vorsichtig genug gewesen war. Ich flog mehrmals in die Luft, bevor die Ruhe wiederkehrte, und die Widerstandsfähigkeit meines Schutzanzuges verblüffte mich wirklich.«

Er hatte den Hundertfüßler besiegt. Er hatte ihn noch nicht dazu gebracht, sich dem menschlichen Willen zu fügen, aber er hattesem Ding daraus gemacht, er konnte es dort verfaulen lassen, wenn er wollte, denn es gehörte ihm. Und ich vermute, daß er einige Bruchstücke der Verfassung laut deklamierte, ein wenig wie der erste Sieger über das Mammut oder über die großen Höhlenbären seine Götter angerufen haben muß.

Daraufhin verließ er den Hundertfüßler, stieg wieder in sein Raupenauto und kehrte zur Station zurück. Vorher war er so vorsichtig gewesen, die Wunde, die er im Rücken des Tieres aufgerissen hatte, mit einer schaumigen, leichten Substanz zuzudecken, die normalerweise dazu benutzt wurde, das Entweichen von Luft aus den Raumschiffen oder den Stationen zu verhindern. Die einzigen Spuren seines Eingriffs waren zwei Kupferdrähte, die auf der Seite des Tieres heraushingen und durch die er Strom schicken konnte, um die Nerven des Ungeheuers zu reizen und ihm die Bewegungsfähigkeit zurückzugeben.  - Gérard Klein, Der Reiter auf dem Hundertfüßler. In: Polaris 4, Hg. Franz Rottensteiner. Frankfurt am Main 1978

Eingriff  (2)  In Anbetracht des guten Ausgangs beim ersten Eingriff hat sich Serten weitere Regionen seines Gehirns punktieren, zertrennen und isolieren lassen. Mehrmals mußten sie ihm, um an eine besonders mit der Rinde verwachsene Stelle zu gelangen, die Schädeldecke öffnen: der klassische Hufeisenschnitt mit Bohrer und Säge und Aufklappen des Scheitelbeins. Auf solche Weise ist es ihm zum Beispiel gelungen, sich das Pflichtgefühl, die Scham, die Scheu, die Gewissensbisse, die Angst, die Bescheidenheit, das Mitleid, die Schlaflosigkeit und ähnliche ebenso seltene wie unerwünschte Anomalien komplett entfernen zu lassen. Als Trophäen einer langen Befreiungskampagne treten zwischen seinen Haaren zarte Platinauswüchse hervor. In jüngster Zeit haben die Ultraschalltechniken ihm den Weg zu interessanten neuen Eingriffen in die entlegensten Winkel des Encephalons eröffnet, wo sich der Hypothalamus, die Hypophyse, das Putamen und das Corpus striatum verbergen. Bei der zweiten Anwendung der Ultraschallwellen hat Serten fast völlig den Orientierungssinn und die letzten ihm noch verbliebenen sexuellen und sozialen Hemmungen verloren. So kann es jetzt vorkommen, daß er sich im Nebel auf irgendeiner Wiese irgendwo weit draußen befindet und sich plötzlich, selbstvergessen und glücklich, daranmacht, mit einem Schaf oder, was aufs selbe herauskommt, mit einem Bock, geduldigen und nachdenklichen Tieren, die Liebe zu treiben.  - J. Rodolfo Wilcock, Das Stereoskop der Einzelgänger. Freiburg  1995 (zuerst 1972)

Eingriff  (3) Es ist ein simpler Eingriff. Das Samtkostüm wird im Schritt aufgeschnitten. Muffage beschließt, auf das Rasieren des Skro-tums zu verzichten. Er tupft es mit Jod ab, dann preßt er jeweils einen der beiden Hoden gegen den rotgeäderten, haarigen Sack, macht rasch und sauber den Einschnitt durch Haut und darunterliegendes Bindegewebe, drückt den Testikel durch die Wunde und das quellende Blut nach außen und zieht ihn mit der linken Hand so weit heraus, daß sich die harten, weich umhüllten Samenleiter unter dem Licht straff spannen. Als wären es die Saiten eines Musikinstruments, aufweichen er, ein frivoler Mondsüchtiger, hier auf dem leeren Strand eine passende Musik aufspielen könnte - seine Hand stockt, doch dann, widerwillig der Pflicht sich beugend, trennt er sie in der gebührenden Entfernung vom glitschigen Ei durch, desinfiziert Schnittstellen und Wundränder und näht die beiden sauberen, nebeneinanderliegenden Schlitze schließlich wieder zu. Die Hoden plumpsen in eine Flasche mit «Souvenirs für Pointsman», seufzt Muffage, die Operationshandschuhe abstreifend.

«Gib ihm noch eine Spritze. Es wird am besten sein, wenn er durchschläft und irgend jemand in London ihm alles erklärt.» - Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel. Reinbek bei Hamburg 1981
 

 

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