-O-Kultur Jetzt wissen wir, daß das Mittelalter erst beendet war, die Neuzeit erst begonnen hat, als auch in der schroffsten Kluft des Kaukasus und im entlegensten Andennest kein Mensch mehr im sogenannten Geschlechtsverkehr gezeugt wurde; als Papier nicht mehr vorkam; als die Gravitationswellen entdeckt waren und zum ersten Mal normale Körperzellen in Stammzellen umgewandelt wurden und dann endlich der erste Mensch ohne Darm gezüchtet werden durfte. Die E-O-Kultur war da. Wie bitte, fragte sie. Ejakulation und Orgasmus.
Das hieß für die Literatur: Hemingway lag falsch, als er vorausgesagt hatte,
es werde immer mehr Kritiker und immer weniger Schriftsteller geben. Mit der
E-O-Kultur wurde das Schreiben in bestimmten Kreisen epidemisch. Dadurch wurden
die Kritiker wichtiger, ah sie je gewesen waren, wichtiger als die Schreibenden.
Je mehr geschrieben wurde, desto weniger wurde gelesen. Als die E-O-Kultur global
blühte, hatten einundsiebzig Prozent der Bevölkerung aufgehört zu lesen oder
es gar nicht erst angefangen. Die Kritiker, jetzt Kritoren genannt, wußten noch,
was einmal Literatur gewesen war. Daß sie noch lesen konnten, verschaffte ihnen
eine Art religiöser Gewalt. Daß aus nicht mehr als 24 Buchstaben soviel Verschiedenes
zusammengesetzt werden konnte, wie die Kritoren, wenn sie über diese Buchstabengebilde
stritten, vermitteln konnten, war atemraubend. Die Kritoren lasen zwar auch
nicht selber, aber sie ließen lesen und ließen dann die, die etwas geschrieben
hatten, etwas, was gerühmt oder verdammt werden mußte, einladen. Andauernd saßen
in den Manegen Schriftsteller in Kabinen und lasen von ihren Head-Tops, was
sie geschrieben hatten. Nur im Eventpalast waren die Kabinen, in denen die Autoren
saßen, aus Glas. Diese Glaskabinen kreisten auf Transportbändern unter dem gläsernen
Boden der Manege. Oben die Kritoren, genannt die Großen Vier. Der Aal,
der Affe, die Auster
und Klitornostra oder die Feuerraupe. Auf riesigen
Bildschirmen sah man, wie die Großen Vier unter den Lesungen der Schriftsteller
litten oder jubilierten. Es gab nur Leiden oder Jubilieren. Solche Event-Manegen
gab es in allen Erdteilen. Aber die Großen Vier, die die GLÄSERNE
MANEGE erfunden hatten, waren die Größten. Im Leiden und im Jubilieren.
Der Aal war der unübertreffbare Meister in beidem. Der Affe, die Auster und
Klitornostra wußten, daß sie nur auftreten konnten, solange der Aal auftreten
konnte. Da man aber mit den Antiagingcells das Altern gestoppt hatte, war ein
Ende nicht zu befürchten. - Martin Walser, Tod eines Kritikers. Frankfurt am Main 2002
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