uzen   Das Klingeln kam mittendrin. Sie war keineswegs fertig mit dem hübschen jungen Mann, der selig lächelnd neben ihr an der Wand lehnte. Noch nicht. Der Zeiger des Weckers stand auf drei Minuten vor halb zehn. Abends. Freitag abends. Als das Telefon zum dritten Mal klingelte, hatte sie den Hörer unter dem Kleiderhaufen hervorgefischt. »Hotel Bellavista ... Roboldt am Tatort ... M 1/2 sitzt in Frohnau fest... Ich verständige die anderen...«

Sie rückte die Stimme gerade. »Ich fahre sofort hin.« Dann suchte sie den Rest des Telefons, warf den Hörer auf die Gabel und sagte leise, aber scharf: »Scheiße!« rollte sich wieder unter die Decke und legte den Kopf auf den hübschen jungen Bauch. »Das kommt davon, wenn man keine Bereitschaft hat. Wer weiß, wozu's gut ist.«

Sie drehte den Kopf zu ihm hoch. »Wie heißen Sie eigentlich?« »Heh heh heh«, raunte er und sah auf sie herab. Er war jetzt nicht mehr der satte Säugling, sondern ging in der Rolle des Komplizen auf. Er fuhr ihr über die blonden kurzen Haare und klang sehr verständnisvoll. »Hätt'ste doch ruhig sagen können, daß du Ärztin bist, du.« Das ›Du‹ eskortierte er durch ein Gesicht, als nähme er eben den wohlverdienten Wanderpokal für Frauenfreundlichkeit entgegen. Sie schoß hoch, warf einen mitleidigen Blick hinter sich und setzte sich auf die Kante. Sie dehnte sich, reckte die Arme und probierte Muskel für Muskel, wie es sich anfühlt, aus einer aromatisch verschwitzten Horizontalen wieder in Amt und Würden zu kommen. Seine Augen verfolgten jede ihrer Bewegungen. Sein Körper legte mit einem Ruck den Hebel auf »Spannung« um. Seine Stimme schaltete auf »Lockruf« . »Ich hab's geahnt, du.«

»Was?«

»Na, ich meine, wurde ja auch Zeit, du. Ne?« »Daß eine Ärztin sich vor Ihnen flachlegt?« Er lief rot an und suchte Zuflucht im Gelächter. »Nee, du. S.o rum hab ich das noch gar nicht gesehen. Ich meine, ich find's einfach geil! Ich hab immer gesacht, laß die Bräute sich mal befreien — dann wer'n sie erst richtich scharf. Sexy und sozial, vastehste? Beides. Wurde doch echt Zeit.« Sie hätte ihm einen Vortrag halten können. Wer wann was wie rum sah, war im Laufe der Jahre fester Bestandteil ihres Repertoires geworden. Aber dazu fehlte ihr nicht nur die Zeit. Also beschränkte sie sich darauf, sich ein Zigarillo anzustecken und ihm mit Lachen unter die Arme zu greifen. Sie schlug die Bettdecke zurück und fand ihren Slip. Die übrigen Kleidungsstücke sammelte sie vom Boden auf und fegte ins Badezimmer. Zwei Minuten später stand sie wieder in der Tür, barfuß, mit offenen Jeans und Hemdchen, in der einen Hand eine Flasche, in der anderen einen Wattebausch, mit dem sie sich die Reste der Wimperntusche aus dem Gesicht wischte. »Bißchen Tempo, bitte. Ich bin fertig.«

»Fertig? Du?« gurrte er zurück und rührte sich nicht. »Stimmt doch gar nicht! Komm, einmal noch, ja? Dein Patient hat doch sowieso schon die Harfe in der Hand. Komm, ja? Du...« Dabei wälzte er sich quälend langsam aus dem Bett. Oh, Gott, dachte sie, das nächste Du überlebt er nicht. Jetzt nicht auch noch neckisch werden. Einfach gut aussehen und den Mund halten. Reicht doch vollkommen. Das konnte ja nicht gutgehen. Sie hätte sich ohrfeigen können. Verdammt nochmal! Inzwischen stand er frontal vor ihr. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte er sich nicht entscheiden, wo er mit den Händen hinwollte - nur unter das Hemdchen oder gleich um die ganze Frau. Dann hatte das Schwitzkasten-Modell gesiegt, und ihr ging die Flasche erst ins Auge und dann auf den Teppich. Sie schlug ihm die Arme weg und packte ihn bei den Gelenken. »Tun Sie mir einen Gefallen: Versuchen Sie bitte nicht, geistreich zu sein. Das steht Ihnen nicht! Schreiben Sie lieber Ihre Nummer auf.«

Sie wischte sich die Hand an der Jeans ab, rieb sich das Auge, hob die Flasche vom Teppichboden, der einen dunklen Fleck hatte, und fegte zum zweiten Mal aus dem Schlafzimmer. »Und beeilen Sie sich, äh —!«

»Klaus!« rief er hinter ihr her. »Und wie heißt du?« - Pieke Biermann, Potsdamer Ableben. Berlin 1992 (Rotbuch 21, zuerst 1987)

Duzen (2) Joseph meldete: »Monsieur Fumal!« Er tat es mit einem Gesichtsausdruck, als spräche er ein unanständiges Wort aus.

Ohne seinen Besucher zu betrachten, murmelte Maigret:

»Setzen Sie sich.«

Als er den Kopf hob, sah er sich einer riesigen, fetten und schwabbeligen Person gegenüber, die sich mit Mühe in den Sessel gezwängt hatte. Fumal beobachtete ihn mit boshaften Augen, als erwartete er von dem Kommissar eine bestimmte Reaktion.

»Um was handelt es sich? Man hat mir gesagt, daß Sie mich persönlich zu sprechen wünschen.« Am Mantel des Besuchers hingen nur wenige Regentropfen. Er mußte also mit einem Auto gekommen sein.

»Erkennen Sie mich nicht wieder?«

»Nein.«

»Denken Sie einmal nach.«

»Ich habe keine Zeit dazu.«

»Ferdinand.«

»Welcher Ferdinand?«

»Der dicke Ferdinand ... Bum-Bum!«

Plötzlich erinnerte sich Maigret. Er hatte vorhin in der Tat nicht ohne Grund geglaubt, daß es sich um eine unangenehme Erinnerung handelte. Vage fielen ihm sein Heimatdorf Saint-Fiacre und die dortige Schule ein, in der Mademoiselle Chaigné Lehrerin gewesen war.

Damals war der Vater Maigrets Gutsverwalter im Schloß von Saint-Fiacre. Ferdinand war der Sohn des Metzgers in Quatre-Vents, einem Weiler, der zwei Kilometer entfernt lag.

»Wissen Sie jetzt Bescheid?«

»Ja.«

»Wie finden Sie es, mich wiederzusehen? Ich wußte, daß Sie Polizist geworden sind, denn ich habe Ihre Bilder in den Zeitungen gesehen. Damals duzte man sich natürlich ...«

»Heute nicht mehr«, brummte der Kommissar, während er seine Pfeife auskratzte. - Georges Simenon, Maigret erlebt eine Niederlage. München 1972 (Heyne Simenon-Kriminalromane 20, zuerst 1956)

Duzen (3)  Ich sehe ein Mädchen in einem Sessel hocken,  die Beine übereinandergeschlagen (na, die Geste kenne ich: alles versaut, samt Aufputz:  mal einen auf den Putz hauen?-), und sofort höre ich: „Du, wir kennen uns vom Bundeseck her." - Ich trete erst mal einen Schritt innerlich zurück: kennen wir uns mit dem Du aus dem Lokus der Volksschule her? Wo man sich die Geschlechtsteile gegenseitig zeigte? Du? -Im englischen heißen die Geschlechtsteile: Private Parts! - Und da sehe ich den Boutiquen Muff-Dress (= Driss, Kölner Slang) plus das dazugehörige westdeutsche Emanzipiertengehabe, die Cordhose hochgekrempelt, die braunen Stiefel halb-hoch vorgezeigt, eine durch sichtige Bluse, das übliche lange Haar, und natürlich sofort: „Du"./Und ich sehe, begreife mit meinen Sinnen den ganzen verlogenen spießigen Aufzug, „Teen-Age-Opera", ich sehe die Dickfälligkeit der vorgezeigten Emanzipation, ich sehe die sture deutsche Körperhaltung - es waren andere Mädchen anwesend, so fiel es mir wieder einmal deutlich auf: wie klotzig deutsche Mädchen sind, nämlich wie modern - und ich dachte in einer langen schweigenden Reihe von Eindrücken, wie sich mehr und mehr Männer/Frauen von einander entfernen und sich gegenseitig die körperliche Entspannung verbieten, obwohl sie einander sich permanent anbieten in dem Muff-Sackkratzer-Leck-Scheiß-Durchsichts-Hintern-Zeige-Aufzug: obwohl gewiß eine Zunahme des Geschlechtsverkehrs à la „short time" zunimmt, aber die Entspannung? Die Freude? Es wären ja auch zu viele Fetzen abzulegen, und hinterher kommt so'n oller Hipp-Körper raus, winzige Titten, winzige Scham, schmale knöchrige Knie, - ich sah das im selben Augenblick, eigene Erfahrungen und gesehene Körperhaltungen (: meine Aufnahmefähigkeit ist sehr verlangsamt, und erst hinterher erlange ich Einblicke, wenn ich sie zurückspule und mir das Gesamtbild in Details zerlege)-also: stur, eckig, dabei voller Gehabe, voll Show - der Musiker, bei dem es passierte, suppte in den Bässen auf dem Klavier rum. Ich ging rasch wieder fort.  - (rom)

 

Du

 

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Synonyme