Drillingsnerv  »Ich weiß nicht«, meinte Herr Skřivánek unsicher, »ich wollte mich  einmal erschießen, und so... Als Herr Kukla vom Rande des Lebens sprach... es ist auch der Rand des Lebens, wenn sich ein Mensch töten will.«

»Aber Herr Skřivánek«, sagte Herr Karas, »warum wollten Sie das tun ?«

»Aus Verweichlichung«, entgegnete Herr Skřivánek noch verlegener. »Ich bin. . . ich kann keinen Schmerz ertragen. Und damals hatte ich eine Entzündung des Drillingsnervs — die Ärzte behaupten, das seien mit die schlimmsten Schmerzen, die der Mensch. . . Ich weiß nicht.«

»Doch, so ist es«, brummte Dr. Vitásek. »Menschenskind, da können Sie mir leid tun. Wiederholt es sich?«

»Das ist es ja«, antwortete Skřivánek, noch röter werdend, »nur will ich jetzt nicht mehr... Das müßte ich Ihnen eigentlich schildern . . .«

»Also heraus damit«, munterte ihn Herr Doležal auf. »Das läßt sich schwer wiedergeben«, wehrte Herr Skřivánek ab. »Überhaupt. .. schon diese Schmerzen . . .« »Man könnte aufbrüllen wie ein Tier«, warf Dr. Vitásek ein. »Ja. Und wie es bei mir den Höhepunkt erreicht hatte... in der dritten Nacht... da legte ich mir den Revolver zurecht. Noch eine Stunde, dachte ich mir, länger hältst du die Schmerzen nicht aus. Warum muß gerade ich das ertragen? Ich hatte das Gefühl eines großen Unrechts,  das an mir begangen werde. Warum gerade ich.. . ?«

»Sie hätten ein Pulver nehmen sollen«, knurrte Doktor Vitásek. »Trigemin oder Adalin, Algokratin, Migradin . . .« »Das habe ich doch getan«, protestierte Herr Skřivánek. »Herr Doktor, ich habe soviel davon geschluckt, daß . .. daß die Pulver nichts mehr halfen. Das heißt. .. mich schläferten sie ein, aber die Schmerzen blieben wach, verstehen Sie? Der Schmerz blieb, aber das war nicht mehr mein Schmerz, denn ich war... so betäubt, daß ich mich selbst verlor. Ich wußte nichts mehr von mir, nur von dem Schmerz; und so schien es mir, als ob der Schmerz einem ändern gehöre. Ich vernahm diesen ändern. .. er stöhnte und jammerte; er tat mir furchtbar leid... mir liefen die Tränen herunter vor Mitleid. Ich  fühlte, wie die Schmerzen wuchsen - mein Gott, sagte ich mir, wie hält es dieser Mensch nur aus! Vielleicht... vielleicht sollte ich ihn erschießen, damit er sich nicht so zu quälen brauchte! Aber in dem Augenblick entsetzte ich mich... das geht doch nicht! Ich weiß nicht, ich empfand plötzlich eine unendliche Achtung vor seinem Leben, eben weil er so unmenschlich litt. . .«

Herr Skřivánek fuhr sich verlegen über die Stirn. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das schildern soll. Es war eine Art Sinnesverwirrung durch die vielen Medikamente, aber dabei empfand ich es so klar. . . so sonnenklar. Ich hatte eine Vision, daß der Leidende und Stöhnende die Menschheit sei... eben der Mensch. Und ich nur ein Zeuge dieser Qualen . . . ein nächtlicher Wächter am Lager der Schmerzen. Und wenn ich nicht dabei wäre, so dachte ich mir, dann wären die Schmerzen vergeblich gewesen; wie eine große Tat, von der niemand weiß. Denn vordem. .. solange es mein Schmerz war ... da kam ich mir so dürftig vor wie ein kleiner Wurm... so armselig. Und nun . . . als der Schmerz über mich hinauswuchs . . . da fühlte ich mit Schrecken, wie groß das Leben ist. Ich fühlte, daß. . .« Herr Skřivánek schwitzte vor Verlegenheit. »Sie dürfen nicht über mich lachen. Ich fühlte, daß der Schmerz ein. .. Opfer ist. Und deshalb, verstehen Sie, deshalb legt jede Religion. .. den Schmerz auf den Altar der Gottheit. Deshalb gab es Blutopfer... und Märtyrer. .. und Jesus am Kreuz. Ich habe begreifen gelernt, daß ... daß... daß dem Schmerz der Menschheit ein geheimer Segen entspringt. Deshalb müssen wir leiden, damit dem Leben geopfert wird. Keine Freude ist groß und stark genug. . . und ich fühlte, wenn du heil davonkommst, trägst du etwas von dem Heiligtum in dir.«

»Und tragen Sie es ?« fragte Pater Voves interessiert.  - Karel Čapek, Der gestohlene Kaktus. Frankfurt am Main 1969 (zuerst ca. 1930)

 

Nerven

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme