rache   Der Drache besitzt die Fähigkeit, viele Formen anzunehmen, aber diese sind unerforschlich. Im allgemeinen stellt man ihn sich vor mit dem Kopf eines Pferdes, dem Schwanz einer Schlange, großen seitlichen Flügeln und vier Klauen, deren jede über vier Krallen verfügt. Desgleichen ist die Rede von seinen neun Erscheinungen: Seine Hörner ähneln denen eines Hirschs, sein Kopf dem eines Kamels, seine Augen denen eines Dämons, sein Hals dem einer Schlange, sein Bauch dem einer Molluske, seine Schuppen denen eines Fischs, seine Klauen denen des Adlers, seine Fußsohlen denen des Tigers und seine Ohren denen des Stiers. Es gibt Drachen, denen die Ohren fehlen und die mit den Hörnern hören.   - (bo)

Drachen (2)   DER Ritter, der den Drachen getötet hat — ein schöner Mann von nobler Haltung, schlank und sauber wenngleich sterblich — bindet die gewaltige Masse angsteinflößenden Fleischs an seinen Sattel und begibt sich auf den Weg in die Stadt. Er ist stolz auf seine Unternehmung, obwohl er dunkel weiß, daß seine Lanze zu gleichen Teilen vom Schicksal und von der Dummheit geführt wurde; er reitet durch die Dörfer, und die Leute — an den Schrecken des Ungeheuers gewöhnt — schließen sich in ihre Häuser ein und verbarrikadieren die Türen; der Ritter lacht und denkt, daß der König in der Stadt ihn vor allem Volk umarmen wird und ihm — wenigstens pro forma — seine Tochter zur Frau anbieten wird. Den Körper, die Zähne und die halbgeschlossenen Augen des Drachens hinter sich herziehend reitet der Ritter an einem Friedhof, einer Kirche und einem einsamen Haus vorbei, aber niemand erscheint, um ihm zu huldigen: nicht einmal die Toten, die sich auf ein Murmeln beschränken, das auch ein Vorwurf sein könnte. Warum kommt der Priester nicht heraus, um den Drachentöter zu segnen? Warum kommen die Bewohner des Hauses nicht heraus um seine Steigbügel zu küssen? Haben sie womöglich Angst vor ihm — dem Mann, der sie von dem ungeheuerlichen Ungeheuer befreit hat? Der Ritter ist mißmutig und erst recht stolz auf seine Unternehmung. Dort seht Ihr ihn, wie er durchs Stadttor reitet und in die große Straße hinein, die zum Königsschloß führt; die Straße ist dicht bevölkert, aber während er auf ihr entlangreitet, merkt er, daß etwas seltsames geschieht: die Leute verstummen, weichen zurück, wenden den Blick ab, und er fühlt, daß sie es nicht tun, um das schreckliche Ungeheuer nicht zu sehen, sondern um ihn, den Ritter, nicht anzuschaun. Er kann nicht umhin zu bemerken, daß ein Gefühl des Abscheus ihn einhüllt; die Bürger empfinden nicht Angst vor ihm, sondern Ekel. Der Ritter ist bestürzt, entrüstet, niedergeschmettert. Ein Fenster wird brüsk geschlossen und er hört oder vermeint rasche Verwünschungen zu hören. Aber hat er denn nicht den Drachen getötet? Waren sich nicht alle einig gewesen, daß der Drache getötet werden müsse? War die Geschichte nicht voll von Paladinen, die Drachen getötet und dafür Frauen, Paläste und japanische Motorräder eingehandelt hatten? Hat er sich womöglich im Drachen geirrt? Nein, nie hat jemand von zwei Drachen gesprochen; es gibt keine zwei Drachen, in keinem Fall. Er wäre gern zornig, ist aber nur sehr melancholisch; er begreift nichts mehr. Er weiß, daß es sinnlos ist, jetzt noch zum König zu gehen: und da seht Ihr ihn nun wie er an einem Kreuzweg sitzt und rastet, während die Leute sich entfernen. Was tun? Der Ritter steigt vom Pferd und dreht sich um und betrachtet den Drachen, wie er da liegt, häßlich und stumm. Zum ersten Mal erforscht er seinen Körper, sein Gesicht, seine harte Haut, seine dornigen Sporen; und was fühlt er dabei, der Ritter? Zum ersten Mal ist er fassungslos und empfindet sein Los eines Drachentöters als lächerlich und schändlich; verschwommen erkennt er, daß er den  Rest seines Lebens in der Betrachtung dieses unverwüstlichen Kadavers verbringen wird. - (pill)

Drache (3)  Die Herkunft bestimmter Drachen, von denen es heißt, sie seien aus der Paarung eines Adlers mit einer Wölfin hervorgegangen, ist ebenso wundenoll wie falsch. Man unterschied auch männliche & weibliche Drachen voneinander, dracones & draconae, wobei die männlichen größer, stärker & mutiger waren als die weiblichen, einen Kamm hatten & die allerhöchsten Bergregionen bewohnten, von wo sie nur herabstiegen, um Beute zu suchen, wohingegen die weiblichen Drachen in den Niederungen der Sümpfe blieben, langsam waren & keinen Kamm hatten. Es soll aschefarhene, goldbraune & schwarze Drachen gegeben haben, nur der Bauch war angeblich bei allen grün. - Daubenton, nach (enc)

Drache (4)   Sie beruhigt sich, und mit gewohnter Schmeichelei kriecht sie heran, um sich unter dem Kinn des Ungeheuers auszustrecken, dessen Hals, dessen schleimig violettfarbenen Hals sie mit ihren weißen Armen umschlingt. Das Ungeheuer zuckt prachtvoll mit den Schultern und, gutmütig wie immer, fängt es an, wilden Moschus auszuscheiden, an allen Stellen, wo es die kleinen fleischenen Arme vorübergleiten fühlt, die kleinen Arme des geliebten Kindchens, das bald von neuem seufzt:

— O Ungeheuer, o Drache, du sagst, daß du mich liebst und kannst doch nichts für mich tun. Du siehst, daß ich vor Langeweile zugrunde gehe, und du tust nichts dagegen. Wie würde ich dich lieben, wenn du mich erlösen, etwas für mich tun könntest! . . .

— O edle Andromeda, Tochter des Königs von Äthiopien! Der Drache wider Willen, das arme Ungeheuer kann dir allein mit einem Zirkelschluß antworten: — Ich werde dich nur erlösen, wenn du mich lieben wirst, denn wenn du mich lieben wirst, wirst du mich erlösen.

— Immer dasselbe orakelhafte Bilderrätsel! Aber wenn ich dir doch sage, daß ich dich gern habe.

— Ich fühle es nicht mehr als du. Aber lassen wir das; noch immer bin ich nur ein armseliges Drachenungeheuer, ein unglückliches Panzertier.

— Wenn du mich wenigstens auf deinen Rücken nehmen und in Länder tragen wolltest, wo man Gesellschaft findet. (Ah, ich würde mich so gern in die Welt stürzen!) Wenn wir dort angekommen sind, werde ich dir bestimmt einen richtigen kleinen Kuß für deine Mühe geben. - Aus: Jules Laforgue, Hamlet oder Die Folgen der Sohnestreue und andere legendenhafte Moralitäten. Frankfurt am Main 1981 (BS 733, zuerst 1887)

Drache (5)  Der Drache Typhoeus - auch Typhaon, Typhon oder Typhos genannt, mit dem Typhon der Ägypter oft verwechselt, doch mit diesem nicht identisch - wurde nach dem Sturz der Titanen als jüngster Sohn der Gaia geboren. Sein Vater war angeblich der Tartaros. Hera gebar freilich den Typhaon von Delphi ohne Gatten. Der kleinasiatische Typhoeus kam in Kilikien auf die Welt, halb Mensch, halb Tier. An Größe und Stärke übertraf er alle Kinder der Gaia. Bis zu den Hüften hatte er Menschengestalt und war so hoch, daß er alle Berge überragte und sein Haupt oft die Sterne berührte. Der eine Arm reichte bis an den Sonnenuntergang, der andere an den Sonnenaufgang. Aus seinen Schultern wuchsen hundert Schlangenköpfe. Von den Hüften nach unten war er wie zwei sich ringelnde Riesenschlangen gestaltet, die bis zu seinem Kopf hinaufreichten und einen zischenden Ton von sich gaben. Von den Tönen seiner hundert Köpfe wird berichtet: seine Stimme war manchmal den Göttern verständlich; er konnte aber auch brüllen wie ein Stier oder ein Löwe, bellen wie ein Hund, und zischen, daß die Berge widerhallten. Am ganzen Körper war das Ungeheuer beflügelt. Sein wildes Kopf-und Kinnhaar wehte im Wind, Feuer brannte in seinen Augen. Mit Zischen und Brüllen warf es feurige Steine gegen den Himmel und ließ statt Speichel lodernde Flammen aus dem Mund spritzen. Es war noch unentschieden, ob nicht Typhoeus über Götter und Menschen herrschen werde. Zeus aber schlug ihn aus der Ferne mit Blitzen, aus der Nähe mit einer stählernen Sichel und verfolgte ihn bis zum Berg Kasion. Als er sah, daß der Drache verwundet war, ließ er sich mit ihm ins Handgemenge ein. Doch wurde er sofort von den schlängelnden Riesenschlangen umfangen. Der Drache nahm die Sichel an sich und schnitt dem Gott die Sehnen aus Hand und Fuß heraus. Er hob Zeus auf die Schulter und trug ihn durch das Meer nach Kilikien und lud ihn in der Höhle namens »Ledersack« ab. Ebenda verbarg er die Sehnen des Zeus in einem Bärenfell und ließ sie durch Delphyne, einen weiblichen Drachen, halb Mädchen, halb Schlange, bewachen. Hermes und Aigipan stahlen die Sehnen und gaben sie unbemerkt dem Gott zurück. Zeus erholte sich wieder, erschien vom Himmel her in einem Wagen mit geflügelten Pferden und verfolgte den Drachen zuerst bis nach dem Berg Nysa. Dort wurde der Verfolgte von den Schicksalsgöttinnen, den Moiren, betrogen. Er aß von Früchten, die sie ihm boten, im Glauben, dadurch erlange er seine Kraft wieder. Dies aber waren die Früchte mit Namen »Nur für einen Tag«. Er floh weiter, kämpfte in Thrakien am Gebirge Haimos und warf ganze Berge um sich, befleckte sie mit seinem B!ut (haima), und seitdem heißt jenes Gebirge so. Schließlich erreichte er Sizilien, wo Zeus den Ätna auf ihn schleuderte. Der Berg speit heute noch die Blitze zurück, die auf den Drachen fielen.  - (kere)

Drache (6)   Sie sind drei bis vier Meilen lang; wenn sie ihren Ort oder ihre Lage verändern, stürzen Berge um. Sie sind umhüllt von einer Rüstung aus gelben Schuppen. Unter der Schnauze tragen sie Bärte; Beine und Schwanz sind behaart. Die Stirn ist vorgewölbt über den flammenden Augen, die Ohren sind klein und dick, das Maul steht immer offen, die Zunge ist lang, und die Zähne sind spitz. Ihr Atem kocht die Fische, und die Ausdünstungen des Leibes braten sie. Wenn sie zur Oberfläche des Meeres emporsteigen, bewirken sie Mahlströme und Taifune; fliegen sie durch die Lüfte, so verursachen sie Unwetter, welche die Häuser in den Städten abdecken und das Land überfluten. Sie sind unsterblich und können sich miteinander verständigen, trotz der trennenden Entfernungen und ohne Wörter zu benötigen.   - (bo)

Drache (7)  Seine Knochen, seine Zähne und sein Speichel sind heilkräftig. Er kann, wie es ihm gefällt, den Menschen sichtbar oder unsichtbar sein. Im Frühling steigt er zum Himmel empor; im Herbst taucht er in die Tiefen der Gewässer. Einige Drachen haben keine Flügel und fliegen mit dem Willen.  - (bo)

Drache (8) Der Drache hat eine trockene, fremdartige Wärme und feuriges Unmaß in sich, sein Fleisch ist innen nicht feurig. Sein Hauch ist so stark und scharf, daß er sofort beim Ausblasen feurig aufloht, wie das Feuer, das aus einem Steine geschlagen wird. Den Menschen haßt er maßlos, er hat Teufelsnatur und Teufelstücken in sich, daher kommt es, daß manchmal Luftgeister die Luft erfüllen, wenn der Drache seinen Odem ausstößt. Mit Ausnahme seines Fettes ist nichts von seinem Fleische und den Knochen für Heilzwecke verwendbar ..- (bin)       


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