Diebin  »O Herr, warum haben die Frauen Rebhühnerblut, warum ziehen sie aus, um Unheil zu stiften? Die Orte, wo Jenny sieb mausert, sind das einzige an ihr, was sie annehmbar macht, diese Christin mit dem Vagabundensteiß. Sie lächelt, und schon hast du das breite Lächeln der Selbstbefleckten; es strahlt ihr ins Gesicht von einem genau umgrenzten Störungszentrum her, die Verkörperung der ›Diebin‹. Es verlangt sie nach fremdem Eigentum; in dem Augenblick jedoch, da es ihr gehört, verliert das Eigentum an Bedeutung, denn des Besitzers Schätzpreis ist sein Wert. Und so war sie es auch, die dir Robin weggenommen hat.«

»Wie ist sie denn?« fragte Nora.

»Nun«, sagte der Doktor, »ich hatte immer gedacht, ich selbst sähe von allen Erdenwesen am komischsten aus; und da fielen meine Augen auf Jenny: eine kleine, flinke Komödiantin im Verfall, mit einem Gesicht wie der Knoten am Narrenstab, einem Geruch um sie her, wie von Mäusenestern. Sie ist ein ›Plünderer‹, und dazu noch ewig aufgeregt. Ich wette, daß selbst im Schlaf ihre Füße zucken, ihre Öffnungen sich dehnen und zusammenziehen, wie die Iris eines argwöhnenden Auges. Sie spricht von Leuten, die ihr den >Glauben an sie‹ nehmen, als sei Glaube ein transportabler Gegenstand; ihr ganzes Leben lang ist sie dem Gefühl ausgesetzt, daß man sie ›um etwas bringe‹. Wäre sie Soldat, so würde sie eine Niederlage mit den Worten beschreiben: ›Der Feind hat uns um den Krieg gebracht‹. Überzeugt davon, daß sie irgendwie heruntergekommen sei, ist sie eifrig dabei, sich ein Schicksal zurechtzubasteln. Und für sie ist Schicksal gleichbedeutend mit Liebe, x-beliebige Liebe, und daher ihre eigene. Denn natürlich ist nur eines anderen Liebe ihre Liebe. Der Hahn krähte - und sie wurde aufs Kreuz gelegt. Ihre Gegenwart ist immer die Vergangenheit eines anderen, plötzlich hervor geschnellt und baumelnd.

Dennoch: was sie stiehlt, das behält sie, solange auch die unvergleichliche Verzauberung von Reifen und Verderben währen mag. Sie hat die Kraft des nicht völlig eingetroffenen Zufalls: man wartet immer darauf, was noch kommen mag; auf die letzte Widrigkeit, die das Ganze vollständig macht. Sie wurde im Moment des Todes geboren, aber leider wird sie nicht zu Jugend altern - übrigens ein grober Fehler der Natur. Um wieviel übersichtlicher wäre es gewesen, alt geboren zu werden, um sich zum Kinde zu verjüngen und sich zu guter Letzt nicht am Rande des Grabes, sondern des Mutterschoßes zu finden. In unserem Alter, herabgewachsen zu Kindern, die nach dem Schoße suchen, in den sie kriechen können; nicht mehr gezwungen, den heiklen Staub des Todes unwillig zu wandeln, sondern einen feuchten, lamellenleichten Weg. Und ein lustiger Anblick wäre es, uns zuzusehen, wie ein jeder am Tagesende sein Plätzchen sucht; und die Frauen, wimmernd vor Schrecken, wagten nicht, die Straße zu betreten, aus Angst davor.  - Djuna Barnes, Nachtgewächs. Frankfurt am Main  1981  (zuerst 1936)

Dieb

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