esillusionierung  Das Glas an die Augen gepreßt, sagte der Kapitän - und seine Stimme schwankte etwas dabei -: »Dort achtern winken sie uns mit etwas zu.« Er setzte das Glas brüsk ab,  legte es aufs Oberlicht und begann auf der Poop hin und her zu gehen. »Ein Hemd oder eine Flagge«,  stieß er gereizt hervor. »Kann es nicht ausmachen... irgend so ein verdammter Lappen!« Er lief noch ein paarmal auf der Poop hin und her,  blickte ab und zu über die Reling,  um zu sehen,  was für Fahrt das Schiff machte. Seine unruhigen Schritte hallten in der Stille laut wieder,  während die Männer in Gedanken verloren unbeweglich alle in die selbe Richtung starrten. »So schaffen wir das nicht!« rief er plötzlich laut aus. »Los,  fier die Boote weg! Zu Wasser damit!«

Ehe ich in mein Boot sprang, nahm er mich als zwar erfahrenen,  aber doch noch sehr jungen Offizier auf ein ermahnendes Wort beiseite: »Passen Sie auf, wenn Sie längsseits kommen, daß Sie nicht mit nach unten gerissen werden. Ist das klar?«

Er sagte das in vertraulichem Ton und so leise, daß die Leute an den Bootsläufern es nicht hören konnten. Ich war schockiert. »Mein Gott!« ereiferte ich mich innerlich voller Verachtung über soviel kaltblütige Vorsicht. »Als ob man in einer solchen Situation noch an Gefahr dächte.«

Es kostet viel Lehrgeld,  bis man ein richtiger Seemann wird,  und schon hatte ich meinen Verweis weg. Mein erfahrener Kommandant schien mit einem einzigen forschenden Blick alle Gedanken von meinem arglosen Gesicht zu lesen.

»Sie sollen jetzt Menschenleben retten und nicht Ihre Bootsbesatzung unnütz aufs Spiel setzen«, knurrte er mir streng ins Ohr. Aber als wir ablegten,  beugte er sich über die Reling und rief:

»Alles hängt jetzt von euch ab, Leute. Holt aus und pullt, was ihr könnt! Es geht um Menschenleben!«

Es wurde ein richtiges Wettrennen, und ich hätte nie geglaubt, daß die gewöhnliche Bootsbesatzung eines Handelsschiffes mit soviel verbissener Entschlossenheit den gleichmäßigen Schlag ihrer Riemen durchhalten könnte. Was unser Kapitän schon deutlich erkannt hatte,ehe wir ablegten, war uns jetzt allen klar geworden. Der Ausgang unseres Unternehmens hing an einem Haar über dem Abgrund der Wasser, die ihre Toten nicht vor dem Jüngsten Tage herausgeben. Es war ein Wettrennen, das zwei Schiffsboote mit dem Tod um den Preis von neun Menschenleben austrugen, und der Tod hatte einen großen Vorsprung. Wir sahen von weitem die Mannschaft der Brigg an den Pumpen arbeiten - sie pumpte noch auf diesem Wrack, das schon so weit abgesackt war,  daß die sanfte Dünung, über die unsere Boote, ohne Fahrt zu verlieren, leicht hinwegglitten, fast schon Relingshöhe erreicht hatte und nach den Enden des gebrochenen Vorgeschirrs griff, das in Fetzen unter dem kahlen Bugspriet hin und her schwang.

Wir hätten uns wahrhaftig keinen besseren Tag für unsere Wettfahrt aussuchen können, selbst wenn wir freie Wahl unter allen Tagen gehabt hätten, die je über einsame, mit dem Tode ringende Schiffe heraufgedämmert sind, seitdem die Wikinger zum erstenmal gegen den Ansturm der Atlantikseen westwärts steuerten. Es war ein sehr gutes Rennen. Im Endkampf lagen die beiden Boote keine Riemenlänge auseinander,  und der Tod kam,  wenn nicht aller Anschein trog,  als guter Dritter auf der nächsten Dünungswelle ein. Die Speigatten der Brigg gurgelten leise im Chor,  wenn das Wasser an den Bordwänden hochleckte und träge mit leisem Rauschen wieder ablief,  als umspielte es einen unbeweglichen Felsen. Das Schanzkleid war der Länge nach weggeschlagen,  wir konnten das kahle Deck so niedrig wie ein Floß über dem Wasser daliegen sehen,  vollkommen leergefegt von seinen Booten, Spieren, seinen Deckshäusern, leergefegt von allem außer den Augbolzen und den Pumpenaufsätzen. Ich warf einen flüchtigen Blick auf dieses traurige Bild, während ich alle Muskeln anspannte, um an meiner Brust den letzten Mann aufzufangen, der die Brigg verließ. Es war der Kapitän, der sich buchstäblich in meine Arme fallen ließ. Es war eine unheimlich stille Rettung gewesen - eine Rettung ohne einen Laut, ohne ein einziges gesprochenes Wort, ohne eine Geste oder ein Zeichen, ja sogar ohne einen bewußten Blickwechsel. Bis zum allerletzten Augenblick blieben sie an Bord an den Pumpen, die zwei Ströme klaren Wassers über die nackten Füße der Leute ergossen. Durch die Risse ihrer Hemden war ihre braune Haut zu sehen, und die beiden kleinen Bündel halbnackter, zerlumpter Männer verbeugten sich in ihrer aufzehrenden Arbeit tief voreinander, immer auf und ab, ganz ihrer Arbeit hingegeben, so daß sie keine Zeit hatten, auch nur mit einem kurzen Blick über die Schulter nach der Hilfe zu sehen, die ihnen nahte. Als wir unbeachtet längsseits der Brigg scheren, brüllte eine heisere Stimme einen einzigen Befehl, worauf die Männer stumpf aus roten Augenlidern flüchtig aufblickten. Dann stürzten sie schwankend und gegeneinanderstoßend von den Pumpen fort und ließen sich, so wie sie dastanden, ohne Mützen, graues Salz in den Runzeln und Falten ihrer hageren, bärtigen Gesichter, gerade auf unsere Köpfe fallen. Das Getöse, mit dem sie in unsere Boote stürzten, hatte eine merkwürdig vernichtende Wirkung auf jenes Wahnbild tragischer Würde, mit dem unsere Selbstachtung die Kämpfe der Menschheit mit der See verklärt. An diesem ausgesucht herrlichen Tage sanft atmenden Friedens und leicht verschleierten Sonnenlichts erlosch meine romantische Liebe zu dem, was in der menschlichen Vorstellung zum erhabensten Teil der Natur gehört.

Die schamlose Gleichgültigkeit der See gegen menschliches Leid und menschliche Tapferkeit offenbarte sich in dieser lächerlichen, panikerfüllten Szene, zu der sie neun tüchtige und ehrenwerte Seeleute in grauenhafter, äußerster Not getrieben hatte, und das empörte mich. Ich erkannte, daß die See selbst in ihrer zärtlichsten Stimmung nicht ohne Falsch ist. Sie war nun einmal so, weil sie sich nicht ändern konnte, aber meine scheue Ehrfucht von einst war dahin. Ich war jetzt so weit, daß ich über ihre bezaubernde Anmut bitter lächeln und mit einem starren Blick boshaft ihren Rasereien zusehen konnte. In diesem Augenblick bevor wir ablegten, überblickte ich leidenschaftslos das Leben meiner Wahl. Seine Illusionen waren verschwunden, aber sein Reiz blieb. Ich war endlich Seemann geworden. - (con)

Desillusionierung (2) Es gibt Schwachen Kraft, die Menschen, die sie am meisten fürchten, aller Illusionen zu entkleiden, die sie sich noch gerne über sie gemacht hätten. Man muß lernen, sie von allen Seiten zu sehen, so wie sie sind, noch schlechter als sie sind. Das erleichtert, befreit und schützt unglaublich. Man wird zu einem andern Ich. Man ist zu zweit.

Es geht keine schmutzig-geheimnisvolle Anziehungskraft mehr von dem aus, was sie tun, man wird nicht mehr schwach und verliert keine Zeit und denkt nicht mehr darüber nach. Ihre Gesten sind nicht mehr erfreulicher oder anregender als die des letzten Schweins.   - (reise)

Desillusionierung (3) Ich wurde  mit einem auf Halbsold gesetzten Offizier bekannt gemacht, der sich bei Waterloo einen Orden geholt hatte, einem durch und durch ungebildeten und womöglich noch phantasieloseren, dummen Menschen, der aber tadellose Umgangsformen besaß und so viele Frauen besessen hatte, daß er sich über sie keinerlei falsche Vorstellungen mehr machte.  - (ele)
 
Illusion
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