- Gerard Heymans, nach:
Literatur und
Schizophrenie, München 1977 (dtv WR 4394)
Depersonalisation (2) Ich stamme aus dem naturwissenschaftlichen Jahrhundert; ich kenne meinen Zustand ganz genau. Bacchanal durch die Singularitäten, Konkretismus triumphal, gebrochen dann wie keines unter das Gesetz der Stilisierung und der synthetischen Funktion, abgewandelt in meinen Zentren, eine groteske Persiflage; und ich muß bei dieser Gelegenheit anführen, daß ich nicht immer mein jetziges Gewerbe, die Hautleiden, betrieb. Ich war ursprünglich Psychiater gewesen, bis sich das merkwürdige Phänomen einstellte, das immer kritischer wurde und darauf hinauslief, daß ich mich nicht mehr für einen Einzelfall interessieren konnte.
Es war mir körperlich nicht mehr möglich, meine Aufmerksamkeit, mein Interesse auf einen neueingelieferten Fall zu sammeln oder die alten Kranken fortlaufend individualisierend zu beobachten. Die Fragen nach der Vorgeschichte ihres Leidens, die Feststellungen über ihre Herkunft und Lebensweise, die Prüfungen, die sich auf des einzelnen Intelligenz und moralisches Quivive bezogen, schufen mir Qualen, die nicht beschreiblich sind. Mein Mund trocknete aus, meine Lider entzündeten sich, ich wäre zu Gewaltakten geschritten, wenn mich nicht vorher schon mein Chef zu sich gerufen, über vollkommen unzureichende Führung der Krankengeschichten zur Rede gestellt und entlassen hätte.
Ich versuchte, mir darüber klarzuwerden, woran ich litt. Von psychiatrischen
Lehrbüchern aus, in denen ich suchte, kam ich zu modernen psychologischen Arbeiten,
zum Teil sehr merkwürdigen, namentlich der französischen Schule; ich vertiefte
mich in die Schilderungen des Zustandes, der als Depersonalisation oder als
Entfremdung der Wahrnehmungswelt bezeichnet wird, ich begann, das Ich
zu erkennen als ein Gebilde, das mit einer Gewalt, gegen die die Schwerkraft
der Hauch einer Schneeflocke war, zu einem Zustande strebte, in dem nichts mehr
von dem, was die moderne Kultur als Geistesgabe bezeichnete, eine Rolle spielte,
sondern in dem alles, was die Zivilisation unter Führung der Schulmedizin anrüchig
gemacht hatte, als Nervenschwäche, Ermüdbarkeit, Psychasthenie, die tiefe, schrankenlose,
mythenalte Fremdheit zugab zwischen dem Menschen und der Welt. - Gottfried
Benn
,
Epilog und lyrisches Ich, zuerst ca. 1922
Depersonalisation (3) »Obwohl ich sehe, Ist es als ob ich blind wäre«, sagt etwa ein Patient; eine Frau meint, sie höre die Leute sprechen und höre doch nichts, eine andere: »Ich bin da und bin doch nicht da.« Manche stehen als Steinwesen in einer erstarrten Mondlandschaft - man denke an das Wort »stoned« in der Drogensprache oder an den Yogin, den »Holzblock« (kashthavat), von dem es heißt: »Er bleibt regungslos, wie ein Felsen« -, andere beschreiben sich als Wesen, die Lichtjahre von der Erde entfernt sind, verlassen in einer Polarwüste stehen oder in einer Eisscholle eingeschlossen sind.
Wenn nun die Depersonalisierten etwa sagen: »Die Welt sieht vollkommen bewegungslos
aus, wie eine Postkarte«, dann ist es nicht so, daß sie keine Bewegung mehr
sehen; vielmehr fühlen sie die Bewegung nicht mehr, sie haben keine Beziehung
mehr zu den Ablaufen um sie herum, alles ist sinn- und zwecklos, »leer« geworden:
»Solange ich die Leere anschauen kann, solange ich mir vorsage: das ist sie,
das ist die Leere, so lange existiere ich noch, wenn man das existieren nennen
kann.« Aber «dann dringt die Leere heran und verschlingt
einen, dann gibt es kein Dasein mehr«. »Statt das Leben zu fühlen, ist alles
leer«, sagt eine Frau. »Nicht ist es so, als empfinde ich die Leere, nein, ich
bin die Leere.« Und weil die Leere sie verschluckt hat, sind Manche Patienten
auch keine Subjekte mehr, und sie reden von sich als »der Ich« oder gebrauchen
einen Eigennamen. "Der Begriff ›Selbst‹«, sagt
ein Schizophrener, »ist ein Widerspruch in sich selbst. Niemandes Selbst ist
wirklich sein eigenes Selbst. Das Ich als das Selbst ist
von außen eingeführt - alles ist von außerhalb der Haut genommen.« - Hans Peter Duerr, Sedna oder Die Liebe zum Leben. Frankfurt
am Main 1984
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