Deckerinnerung    Dr. Märklin möchte wissen, woran ich mich als Allererstes in meinem Leben erinnere. Ich denke zuerst, dass er wieder auf die Geschichte des Indianerjungen hinauswill und meine Erinnerung womöglich bis in den Mutterleib zurückreichen soll, doch dann fügt er erklärend hinzu, dass man sich an die ersten Lebensjahre überhaupt nicht erinnern kann, und wenn man sich dennoch erinnert, dann handelt es sich dabei um sogenannte Deckerinnerungen. Dieses Wort gefällt mir. Es erinnert mich an Verstecken spielen. Die Deckerinnerung ist der Ort, für den es nur Wörter gibt, von denen ich nicht wüsste, wie man sie schreibt. Wupp oder Hola. Der Ort, an dem man nicht abgeschlagen werden kann. Ich denke nach. Mir fällt die Geschichte mit dem ertrunkenen evangelischen Jungen ein und dem Mann, der davor zu mir über die Gartenmauer schaute. Aber es gab noch etwas davor. Mein Rad. Ich sehe mein kleines blaues Rad mit den Stützrädern vor mir. Es steht gegen die zugemauerte Tür der ehemaligen Waschküche gelehnt. Es ist um Ostern. Die Osterglocken sind schon aufgegangen. Ich stehe mit drei Postkarten in der Hand neben dem Reneklodenbaum in unserem Garten. Diese Postkarten sind sehr wertvoll für mich. Micky Maus und Donald Duck sind auf ihnen abgebildet, in kräftigen Farben und mit Tiefenwirkung. Plötzlich muss ich mich übergeben. Ich weiß selbst nicht, wie mir geschieht, und übergebe mich über die Karten in meiner Hand. Meine Mutter kommt aus dem Haus gelaufen und hat eine fast handtellergroße hellgrüne Tablette da­bei, die sie aus der Folie drückt und mir in den Mund steckt. Die Tablette sieht aus wie eine der Brausetabletten, mit der mein Vater sich manch­mal ein Fußbad macht. Genau, sagt Dr. Märklin, das ist eine typische Deckerinnerung. Was heißt das?, frage ich. Das heißt, diese Geschichte, so wie du sie mir erzählt hast, hat so nie stattgefunden. Es scheint so zu sein, dass Erwachsene einen etwas fragen, nur um anschließend zu sagen, dass es nicht stimmt, was man gesagt hat. Man soll beichten und alle Sünden bekennen, und doch bohrt der Pfarrer noch weiter nach, ob es nicht noch mehr Sünden gibt, die man nur ausgelassen hat. Wenn man in  diesem Moment nachgibt, selbst wenn einem eine noch so fürchterliche Sünde einfällt, darf man sich auf keinen Fall verraten, denn sonst bohrt er das nächste Mal noch stärker nach, und am Ende gesteht man Dinge, die man niemals gemacht und an die man noch nicht einmal gedacht hat. Man muss standhaft bleiben und leugnen.   - (raf)
 

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