aumenlutscher  Lestrade blickte in die ausgezehrten Züge des Leichenbestatters und auf das in der Mitte geteilte glatte Haar. Alles in allem sah er weitaus schlechter aus als Forbes. Als dem Mann dämmerte, daß seine Amateurschnüffeleien den Inspector nicht sonderlich interessierten, schwenkte er um.

«Es könnte natürlich die Hutnadel einer Dame sein.» Wenn Lestrade etwas noch weniger paßte, war es das. «Erstechen ist nichts für Frauen», sagte er. «Zu direkt, zu unappetitlich. Seit zwölf Jahren untersuche ich Mordfälle und bin noch nie einer Messerstecherin begegnet.» Doch ganz im geheimen und nicht ganz zu seinem Vergnügen standen ihm mit einemmal das Gesicht und die Gestalt Constance Mauleverers vor Augen. Er unterdrückte den Gedanken auf der Stelle. Zu der Zeit, als Forbes getötet wurde, war sie mit ihm zusammen gewesen. Trotzdem hatte er ein leicht unbehagliches Gefühl. Mit Forbes' Tod stimmte irgend etwas nicht.

«Das hier ist natürlich auch sehr merkwürdig», sagte der Leichenbestatter, zog das grüne Laken zurück und entblößte den bleichen Leichnam. Lestrade prallte sichtbar zurück. Forbes' Hände lagen über seinen Geschlechtsteilen. Vor ein paar Minuten, als die Totenstarre nachzulassen begann, hatte der Leichenbestatter sie in diese groteske Stellung gebracht. Lestrade konnte es nicht glauben. Beide Daumen waren verschwunden.

«Mit einer Schere abgeschnitten, wenn mich nicht alles täuscht. Hartes Stück Arbeit, wenn Sie mich fragen. Der Knochen ist sauber durchtrennt.»  - M. J. Trow, Lestrade und die Struwwelpeter-Morde. Reinbek bei Hamburg 1990 (zuerst 1985)

Daumenlutscher ⁽²⁾  Er fängt  zu zittern an, er zappelt am ganzen Körper, er kennt sich nicht mehr vor Wut... Er ballt die Fäuste ... Sein Schemel kracht und tanzt... Er springt wieder auf... Er bläst mir neue Schimpfworte in die Nasenlöcher... immer wieder neue... Ich fühle auch, wie es in mir aufsteigt... dazu die Hitze... Ich fahre mir mit beiden Händen über den Dez... Plötzlich sehe ich alles so merkwürdig!... Ich sehe überhaupt nichts mehr... Ich mache einen Satz... Ich packe seine Maschine, die schwere, wuchtige... Ich hebe sie hoch in die Luft. Und plak!... Ich haue sie ihm in die Schnauze! Er hat keine Zeit auszuweichen!... Er bricht zusammen... Tisch, Mann, Stuhl, alles liegt am Boden... Ich werde auch mitgerissen... Ich stolpere, ich falle hin... Ich kann nicht mehr einhalten ... Jetzt muß ich dieses schmutzige Mistvieh ganz erledigen!... Ich werde ihm den Kopf zerschmettern!... Er soll nicht mehr reden, ich werde ihm die Schnauze kaputtschlagen!... Ich bearbeite ihn am Boden... Er brüllt... Er bölkt... Ich packe seinen Hals ... Ich knie auf ihm ... Ich verwickle mich in seine Verbände, meine beiden Hände verwirren sich darin. Ich drücke zu. Ich würge. Er röchelt noch... Er wirft sich hin und her... Mein Gewicht liegt schwer auf ihm... Er ist ekelhaft... Er quakt... Ich fahre tief ins Fleisch hinein... Es ist weich... Geifer... Ich reiße ihm einen Teil seines Bartes aus... Er beißt mich, das Luder!... Ich wühle ihm in den Löchern ... Alles klebt... meine Hände gleiten ab ... Er entwischt mir aus den Fingern. Er greift mich fest am Hals... Ich würge wieder. Ich schlage ihm den Bregen gegen die Steinfliesen ... Er wird ganz schlaff... sackt unter meinen Beinen zusammen... Er saugt an meinem Daumen... Er saugt nicht mehr... Verdammt! Ich hebe den Kopf... Ich sehe das Gesicht meiner Mutter dicht über meinem... Sie sieht mich an, ihre Augen glotzen furchtbar... Sie reißt die Augen so stark auf, daß lch mich frage, wo wir sind ? .- (tod)

Daumenlutscher ⁽³⁾  François — der neun Tage alt ist, versucht, an seinem Daumen zu lutschen. Welche Mühen! was für Anstalten! Er erinnert mich an meine Versuche und Forschungen, an meine Einfälle von vor 12 Jahren zur Koordination, zum Übergang von der Vielförmigkeit zur Einförmigkeit, zur Aufmerksamkeit.

Seine beiden Hände suchen, untersuchen sich gegenseitig. Seine Geometrie regt sich, rappelt sich zusammen. Bis jetzt ist es ihm erst zweimal gelungen — und dieser Akt, für uns Gewißheit, ist für ihn eine schwache Wahrscheinlichkeit. Dieser Akt, der für uns sicher ist und stabil, ist für ihn ein Glücksfall und bleibt auch nach seiner Verwirklichung instabil. Für uns die schwierige Idee, der gesuchte Gedankenpunkt, die Lösung, die Genialität. Genialität gibt es dort, wo ein bestimmter Akt ebenso von unabhängigen Faktoren abhängt wie bei François diese schwierige Bewegung. Er entdeckt den Vorgang, seinen Schädel an irgendeiner Stelle zu berühren und seine Hand über diese Oberfläche zu bewegen, auf der irgendwo sein Mund ist. Er hat die Gesamtheit der möglichen Fälle eingeschränkt und unterwirft es 2 Dimensionen.

Die ganze menschliche Geschichte reduziert sich auf das von tastenden Versuchen erfüllte Intervall zwischen einem Reiz und seiner Beantwortung, einem Bedürfnis und seiner Befriedigung. Wahrnehmungszeit, Reizerhaltungszeit, Null.   - (pval2)

Daumenlutscher ⁽⁴⁾  Auf Zehenspitzen ging ich weiter, die Treppe hinauf. Auf dem ersten Absatz begegnete ich einem kleinen Jungen in abgetragener Weste. Er mußte ungefähr drei Jahre alt sein, war aber für sein Alter noch ziemlich klein. Sein Gesicht war verschmiert, die Nase lief, und er lutschte am Daumen mit einer solch unheilverkündenden Verbissenheit, als schliffe er ein Messer, Seine von Müdigkeit schweren Augen folgten mir mit entnervend ausdrucksloser Konzentration.

»Guten Tag«, begrüßte ich ihn, wie es sich gehört, aber er antwortete nicht. Nie antwortet er. Ich bin gar nicht einmal so sicher, ob es immer derselbe kleine Junge ist - ich habe den Eindruck, daß verschiedene Freundinnen von Tony, Pete und Giles solche haben, Erinnerungen an irgendeine vergangene Episode aus ihrem stürmischen, unverstandenen Leben. Wie dem aber auch immer sei und woher sie auch stammen mögen, fast immer treffe ich bei den Hardwicks einen solchen Jungen, und immer zeigt er mir, daß er mich nicht mag, immer begegnet er meiner geheuchelten Liebenswürdigkeit mit dem gleichen geraden, unerschütterlichen Blick.  - Celia Fremlin, Klimax oder Außergewöhnliches Beispiel einer Mutterliebe. Zürich 1981