amen, dicke Zweiter Offizier und Matrose, über die Steuerbord-Reling des kleinen Segelschiffes gelehnt, das in der Bucht von Chocolocolo geankert hat. Eine ganze Weile verharren sie schweigend, erwartungsvoll.
MATROSE (weist mit dem Zeigefinger auf etwas): Da ist er! Da
ist er! Gesund und munter!
ZWEITER OFFIZIER Wo?
MATROSE Da!
Ein bißchen weiter rechts!
ZWEITER OFFIZIER Ja,
jetzt seh ich ihn!
MATROSE Glauben
Sie, daß er uns auch sehen kann?
ZWEITER OFFIZIER Nein,
das glaube ich nicht. Ich habe gehört, daß diese wunderliche Rasse halbblind
ist.
MATROSE Grüßen
Sie ihn, vielleicht grüßt er zurück.
ZWEITER OFFIZIER Glauben
Sie, das lohnt sich?
MATROSE Ich
glaube ja. Es ist das erste Mal, daß ich einen Wasserprälat
sehe. Grüßen Sie ihn, Sie haben den höheren Rang. Wenn ich ih grüße, fühlt er
sich vielleicht zurückgesetzt und grüßt nicht zurück.
Pause. Der zweite Offizier winkt mit dem Arm. Beide Männer warten vergeblich auf Antwort.
ZWEITER OFFIZIER Nein, er reagiert nicht. Ich bin sicher,
er kann uns nicht sehen.
MATROSE Wie
schade.
ZWEITER OFFIZIER Ja, das ist schade.
Pause. Von rechts nähert sich der Kapitän und lehnt sich ebenfalls über die Reling.
ZWEITER OFFIZIER Guten Tag, Herr Kapitän.
KAPITÄN
Guten
Tag, Sandoval. Was machen Sie hier?
ZWEITER OFFIZIER Wir
betrachten den Wasserprälat, Herr Kapitän.
KAPITÄN Wo
ist er? Seit Jahren höre ich schon von diesem Geschöpf, aber ich habe es noch
nie zu Gesicht bekommen.
ZWEITER OFFIZIER Da ist
er, Herr Kapitän, bei dem Wellenkamm dort.
KAPITÄN Wo?
ZWEITER
OFFIZIER Ein bißchen mehr zu Ihrer Linken.
KAPITÄN
Ja,
jetzt sehe ich ihn. Es scheint sogar, als würde er uns zulächeln. Glauben Sie,
daß er uns auch sehen kann?
MATROSE Nein,
das kann er nicht, Herr Kapitän. Wir haben es gerade festgestellt. Wasserprälaten
sind halbblind.
KAPITÄN Eigentlich
sieht er nicht so wild aus, wie ihn manche französische Forscher beschreiben.
MATROSE
(mit
heiliger vaterländischer Empörung): Wer traut schon dem, was die Ausländer
behaupten?
KAPITÄN Er
wirkt im Grunde recht friedlich.
ZWEITER OFFIZIER Ja, er
macht einen ziemlich ruhigen Eindruck.
Pause. Einige Minuten lang betrachten die drei Männer schweigend die schöne Erscheinung. Von rechts nähert sich ihnen eine Gruppe dicker Damen, und das kleine Segelschiff bekommt Schlagseite nach steuerbord.
ERSTE DAME Was
geht vor, Herr Kapitän?
KAPITÄN (zeigt
ihnen mit einem gewissen Stolz, als sei das Auftauchen des mysteriösen Geschöpfes
ihm persönlich zu danken): Sie sehen hier den legendären Wasserprälat,
meine Damen. Eine Gelegenheit, die sich sehr selten bietet. Dieser Auftritt
war natürlich nicht im Programm vorgesehen.
ZWEITE DAME Wo
ist er?
KAPITÄN Da,
zu Ihrer Rechten.
ZWEITE DAME Oh
ja! Da ist er!
KAPITÄN Sehen
Sie nur! Sehen Sie nur!
DRITTE DAME Er
ist bezaubernd!
ZWEITE DAME Wie
reizend!
VIERTE DAME Was
für ein niedlicher Opa mit seinem langen weißen Bart!
FÜNFTE DAME Ein
richtiges Püppchen mit seiner Mitra und seinem Hirtenstab!
SECHSTE
DAME (betrachtet ihn durch
ihr Monokel): Das ist das Ungeheuer, vor dem man
uns so sehr gewarnt hat?
KAPITÄN Das
ist es, meine Dame. Jetzt sehen Sie, wie lächerlich diese Legenden sind, die
ihn als wildes Tier beschreiben.
NEUNTE DAME Glauben
Sie, daß er uns sehen kann?
ZWEITER OFFIZIER Nein, das kann
er nicht.
DRITTE DAME Er
kann nicht oder er will nicht?
ZWEITER OFFIZIER Er kann
nicht.
SIEBTE DAME Jedenfalls
ist er entzückend.
NEUNTE DAME Glauben
Sie, daß Zeit genug ist, um ein paar Photos von ihm zu machen?
KAPITÄN Ich
glaube schon. Aber verlieren Sie keine Sekunde. Holen Sie Ihren Apparat.
Pause. Eine weitere Gruppe beleibter Damen erscheint und das Boot neigt sich noch mehr nach steuerbord.
ZEHNTE DAME Da
hast du dieses Wunderwesen, liebe Rosamunda! Der Wasserprälat!
ALLE
(im
Chor): Oh, der Wasserprälat!
Ein weiteres Dutzend weiblicher Passagiere — eine gute Tonne - erscheint;
ohne daß jemand es verhindern könnte, vollführt das kleine Segelschiff eine halbe
Drehung, und sein Kiel hebt sich in die Luft. Die unglückseligen Damen fallen
ins Wasser und versinken in Sekundenschnelle. Anders als manche glauben mochten,
diente ihnen ihr Fett nicht als Schwimmer. Die Männer der Besatzung hingegen
versuchen, sich über Wasser zu halten und rudern verzweifelt mit den Armen,
aber der Wasserprälat nähert sich den Schiffbrüchigen, noch immer lächelnd,
und teilt mit seinem großen, massivgoldenen Hirtenstab rüde Schläge auf ihre
Köpfe aus. -
(tom)
Damen,
dicke (2) Eine der Damen am Spieltisch entstammte dem
Sultansharem. Als die Mitglieder der osmanischen Herrscherfamilie - das Wort
»Dynastie« will mir nicht über die Lippen - Istanbul verlassen mußten und der
Harem aufgelöst wurde, heiratete sie einen Geschäftsfreund meines Großvaters.
Sie sprach so betont vornehm, daß mein Bruder und ich sie oft nachahmten, und
obwohl sie eine Freundin meiner Großmutter war, redeten die beiden sich fortwährend
mit »gnädige Frau« an, während sie mit gesundem Appetit das von Bekir herbeigebrachte
ofenfrische Gebäck und die Brötchen mit geschmolzenem Käse vertilgten. Beide
waren rundweg als dick zu bezeichnen, doch da sie zu einer Zeit und in einem
Kulturkreis lebten, wo davon kein Aufhebens gemacht wurde, störte sie das nicht
weiter. Wenn alle heiligen Zeiten meine dicke Großmutter einmal das Haus verließ,
um zu einem Empfang zu gehen, wurde als Höhepunkt der tagelangen Vorbereitungen
Kamer Hanim gerufen, die Frau des Pförtners, die mit ihrer ganzen Kraft meiner
Großmutter das Korsett schließen
sollte. Gebannt lauschte ich dann dem Ächzen und Stöhnen und dem »Nicht so fest!«,
das während der langen Schnürszene hinter einem Wandschirm hervordrang.
- Orhan
Pamuk, Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt. Frankfurt am Main 2011
Dame, dicke (3) Ich habe die dicke Negerin, Miß Ranovalla de Singapore, besucht. Ihre Arme sind wie Brotlaiber. Sie sitzt am Ofen einer Basler Wirtsstube und friert. Einen blauen Hänger trägt sie auf der schwarzen Haut und ein rotgesäumtes Mäntelchen über den Schultern. Traurig und mit schwarzflaumigem Gesicht einer aufgeputzten melancholischen Äffin sitzt sie da. Europa ist vor ihr gescheitert.
Ihr Impresario, ein Casti Piani mit harten lachenden Zähnen, bietet mir eine
Zigarette an, die ich dankend nehme. Miß Ranovalla reiste früher mit einem
Bajuwaren als Duett. Dies Völkergemisch zu erleben, ist mir versagt geblieben.
Aber sie trauert ihm sichtlich nach. Man stelle sich eine verlassene Schweizer
Saaltochter von solchen Proportionen unter den Kongonegern vor! Das Leben ist
doch mitunter recht weitläufig. - Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit. Zürich 1992 (zuerst 1927)
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