hef  Wenn meine Großmutter auf Atatürk angesprochen wurde, erklärte sie sich als Anhängerin seiner Verwestlichungsbestrebungen, aber im Grunde genommen waren ihr West und Ost genauso gleichgültig wie allen anderen Istanbulern auch. Ohnehin ging sie kaum aus dem Haus. Wie die meisten Menschen interessierte sie sich weder für die Historie noch für die »Sehenswürdigkeiten« ihrer Heimatstadt, und das, obwohl sie im Lehrerseminar Geschichte studiert hatte. Noch vor der Verlobung mit meinem Großvater tat sie 1917 etwas für das damalige Istanbul ziemlich Unerhörtes, denn sie ging mit ihm auf der Straße spazieren und sogar in ein Lokal. Da dort Alkohol ausgeschenkt wurde, stelle ich mir heute unter jener Gaststätte ein vornehmes Restaurant in Pera vor. Als mein Großvater sie fragte, was sie trinken wolle (und damit meinte er ein alkoholfreies Getränk), wähnte meine Großmutter, man wolle ihr Alkohol verabreichen, und versetzte kategorisch: »Spirituosen nehme ich nicht zu mir, mein Herr!«

Wenn sie mehr als vierzig Jahre später bei Feiertags- und Neujahrsessen im Familienkreis nach dem Genuß von einem Glas Bier fröhlich wurde und wieder einmal diese allseits bekannte Anekdote zum besten gab, lachte sie immer aus vollem Halse. Manchmal aber, wenn sie mir diese Geschichte an einem normalen Werktag erzählte, im Sessel ihres Salons, dann konnte es passieren, daß ihr Lachen allmählich in Tränen überging, die sie über den frühen Tod meines Großvaters vergoß, jenes »Ausnahmemenschen«, den ich nur von Fotos her kannte. Während sie weinte, versuchte ich mir auszumalen, wie sie früher einmal als fröhliches junges Mädchen draußen auf der Straße spazierengegangen war. Das fiel mir aber genauso schwer, wie wenn man sich ein rundliches, behäbiges Renoir-Modell als dünne, nervöse Modigliani-Frau vorstellen sollte.

Mein Großvater starb früh an Blutkrebs, so daß meine Großmutter plötzlich als »Oberhaupt« einer großen Familie dastand. Wenn ihr Koch Bekir, der ihr fast das ganze Leben zur Seite stand, wieder einmal der nicht enden wollenden Anordnungen und Nörgeleien meiner Großmutter überdrüssig war, sagte er mit leicht spöttischem Unterton: »Wird erledigt, Chef!«   - Orhan Pamuk, Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt. Frankfurt am Main 2011

Chef ⁽²⁾ der Mordkommission war in diesem Jahr ein gewisser Captain Gregorius, ein Bullentyp, der allmählich seltener wird, aber noch keineswegs ausgestorben ist, einer von der Sorte, die Verbrechen mit dem Scheinwerfer, dem Gummiknüppel, dem Tritt in die Nieren, dem Knie in die Leistengegend, der Faust auf den Solarplexus, dem Schlagstock auf die Lendenwirbel aufklärt. Sechs Monate später wurde er wegen Meineids, begangen vor einem Schwurgericht, angeklagt, ohne Prozeß gefeuert und später von einem wilden Hengst auf seiner Ranch in Wyoming zu Tode getrampelt.  - Raymond Chandler, Der lange Abschied. Zürich 1975