Buch, sprechendes    Anne-Marie ließ mich auf meinem kleinen Stuhl ihr gegenüber Platz nehmen; sie beugte sich vor, senkte die Lider, schlief ein. Aus dem Statuengesicht kam eine gipserne Stimme. Ich wurde ganz verwirrt: wer erzählte? was? und wem? Meine Mutter war verschwunden: kein Lächeln, kein Zeichen des Einverständnisses, ich war im Exil. Und außerdem erkannte ich ihre Sprechweise nicht wieder. Woher nahm sie diese Sicherheit? Nach einem Augenblick hatte ich begriffen: das Buch sprach. Sätze kamen daraus hervor, die mir Angst machten: wahre Tausendfüßler, ein Gewimmel von Silben und Buchstaben, sie streckten ihre Diphthonge vor, ließen die Doppelkonsonanten vibrieren; singend, nasal, unterbrochen von Pausen und Seufzern, reich an unbekannten Wörtern; so erfreuten sich diese Sätze an sich selbst und an ihren mäanderhaften Windungen, ohne sich um mich zu kümmern. Manchmal verschwanden sie, ehe ich sie verstanden hatte, ein andermal hatte ich schon vorher verstanden, und die Sätze rollten nobel weiter ihrem Ende entgegen, ohne mir ein Komma zu schenken. Diese Rede war offensichtlich nicht für mich bestimmt. Die Geschichte selbst hatte ein Sonntagskleid erhalten: der Holzfäller, die Holzfällerin und ihre Töchter, die Fee, all diese kleinen Leute von unseresgleiclien hatten Majestät angenommen; man sprach prunkvoll von ihren Lumpen, die Wörter färbten auf die Sachen ab, verwandelten die Handlungen in Riten und die Ereignisse in Zeremonien.   - Jean-Paul Sartre, Die Wörter. Reinbek bei Hamburg 1968

Buch, sprechendes (2)

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