rutalität Ein
Erlebnis fällt mir ein, das ich als kleiner Junge in Berlin hatte. Ich war damals
ein tagträumendes Kind, war eben von Stolp nach Berlin gekommen und in der Artilleriestaße
neu eingeschult worden. Ich war sehr allein. Aus einer mir vertrauten Umgebung
in Stolp kommend, stand ich während einer Pause auf dem Schulhof. Alles war
mir so fremd und die Berliner Umgebung so neu, und ich hatte auch noch keine
rechte Freundschaft schließen können. So stand ich da, halb träumend, und war
gerade dabei, in mein ausgewickeltes Butterbrot hineinzubeißen, als ich plötzlich
von einem vorbeirennenden Jungen einen kräftigen Stoß in den Rücken erhielt
und der Länge nach mit dem Gesicht auf meinem Butterbrot in den Schmutz fiel
... Ich war wie gelähmt. Ich war vernichtet, und obwohl ich den Jungen davonrennen
sah, war ich nicht imstande, ihm zu folgen oder gar eine Prügelei zu wagen.
Warum, weiß ich selbst nicht; es muß etwas anderes gewesen sein als nur ein
gewöhnlicher Stoß in den Rücken. In mir, so besinne ich mich, war es eiskalt
vor Haß und Wut, aber irgendwie schluckte ich es, ohne zu murren — merkwürdig.
Später lernte ich ja meine Lektion, und viel später gehörte ich sogar selbst
zu jenen, die Stöße in den Rücken butterbrotessender und träumender Jungens
verabfolgten. Aber komisch, ich habe dieses Erlebnis bis heute nicht vergessen.
Oft noch empfand ich die ungeheure Bösartigkeit, Einsamkeit und Verlorenheit,
die ich auf dem Schulhof in der Artilleriestraße verspürte. Ich fand diesen
Menschentyp dann in fast allen Lebenslagen wieder; es war, als hätte ich damals
ein tieferes Gesetz der Brutalität entdeckt, aber gleichzeitig damit das immer
und ewig vorhandene Lachen der Schadenfreude. - George Grosz, Ein kleines Ja und ein
großes Nein. Sein Leben von ihm selbst erzählt. Reinbek bei Hamburg 1986, zuerst
1955
Brutalität (2)
Hans Henny Jahnn
- Johannes Grützke
Brutalität (3) Ich habe von Anfang
des Denkens her die Meinung gehabt, daß auf der Erde ohne jede Veränderung seit
endlosen Zeiten ein furchtbarer Kampf vor sich geht. Lebewesen, die in ihrer
Phantasievorstellung von sich selbst groß werden wollten, mußten sich unendlich
verkleinern. Sie sind Läuse, Wanzen auf den anderen gewesen. Menschen haben
sich, um eine kleine Weile zu überleben, irgendwelche unglaublich elende Spalten
und Schlupfwinkel suchen müssen, in denen sie ihren Leib, wie ein Einsiedlerkrebs
in einer Muschel, ein wenig sichern, um mit der anderen Körperhälfte das aggressive
Leben führen zu können, das durchaus nötig ist. Die verschiedenen Charaktere
des Daseins - das überwältigende Tier, das wie eine Dampfwalze Dinge unter sich
zerstampft, die vielen Katzen, die großen Tiger und andere lauern — als Menschen,
dauernd auf wehrlose Beute. Die ganze Wildheit der Erde aus Urzeiten geht unverändert
weiter.
Es mag sein, daß sich eine frühe Jugend über diesen Zustand des Kampfes Illusionen
macht, daß man seinen ganzen Lebensweg bis zur Katastrophe mit schmetterndem
Optimismus durchlaufen kann. Die Grausamkeit der Welt verändert sich darüber
nicht.
In dieser Form der heimlichen Brutalität hat »es« auf der Erdoberfläche immer
gelebt. Die Formen, unter denen die Wildheit erscheint, sind ganz gleichgültig.
Es gibt nicht die kleinste Tier-Natur, die nicht im Menschen fortlebt. -
Ernst Fuhrmann, Vorwort zu (
fuhr
)