Brillenblick  Als ich näher trat, sah ich vor der jüngeren der Frauen nur noch einen Strauß liegen, während auf dem Tisch gleich daneben - dem Tisch einer Alten, die sich in dem Halbdunkel fast hexenähnlich ausnahm - noch ganze Berge aufgetürmt waren, deren sehr viel schlechtere Qualität jedoch ins Auge fiel. Ich wandte mich an die Jüngere, die ihre Geldkassette seufzend wieder aufschloß ... geistesabwesend streckte ich die Hand nach den Blumen aus, die Brillengläser der Greisin in der Nachbarschaft funkelten rötlich, sie reckte den Kopf herüber und schien angestrengt zu lauschen. - Nelken, was für Nelken, sagte die Jüngere. Sie müssen träumen, mein Lieber, wenn Sie Nelken haben wollen, dann müssen Sie noch bis Mai warten. -Ach was. Ich starrte sie betreten an. Nelken ... habe ich wirklich Nelken verlangt? Ich muß in Gedanken gewesen sein. Es waren natürlich Astern, wie ich an dem nicht vorhandenen Duft erkannte; ungeduldig zahlte ich und wartete, bis sie die Astern kopfschüttelnd in Zeitungspapier gewickelt hatte. Dabei sah ich im Gesieht der Alten nebenan den Schatten einer langen Hakennase beständig über dem zornig murmelnden, zahnlosen Mund umherspringen: Sie welken! Sie welken ... verwelkt! Offenbar machte sich die Alte einen Reim auf unseren kurzen Wortwechsel, den sie nicht verstanden haben konnte; ihr Gebrabbel klang, als würden Flüche herübergezischt. Ich sah ihre braune Faust mit einem Krückstock verwachsen, der zu verhindern schien, daß sie von der Last eines ungeheuren, sich zwischen ihren Schultern aufbäumenden Buckels vornüber geworfen wurde. Mit den Blumen entfloh ich ihrem dampfenden Atem und den Blicken der Brille. - Wolfgang Hilbig, Grünes grünes Grab. Frankfurt am Main 1993
 
 

Blick Brille

 

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