Brautmörder   Die alte Dienerin stellte einen kleinen tragbaren Backsteinofen auf den Vorplatz und begann, die Kohlenglut anzufachen, um das Wasser im eisernen Kessel zu erhitzen. Nach geraumer Zeit fing es an zu kochen, und der Dampf stieg zum überhängenden Dachrand auf.

Von diesem Vorgang schien Richter Di's Aufmerksamkeit vollständig gefesselt zu sein. In seinem Sessel bequem zurückgelehnt, folgte er jeder Bewegung der alten Dienerin und ließ seine Finger andächtig durch die Barthaare gleiten.

Nach etwa einer halben Stunde war das Wasser fast verdampft. Bestürzt blickte die Magd auf Richter Di. Er schrie sie sofort an:

«Warum schüttet ihr nicht Wasser nach? Und blast das Feuer unter dem Rost weiter kräftig an!»

Sie trippelte zum Kaltwasserbecken und goß frisches Wasser in den Kessel. Dann hockte sie sich wieder vor den Ofen und blies tüchtig ins Feuer, bis ihr der Schweiß über das Gesicht lief. Endlich kräuselte sich das Wasser, und eine Dampfwolke stieg zum Dach empor.

Der verärgerte Herr Hua glaubte, auf seinem Stuhl lange genug ausgehalten zu haben. Mit einem Ruck erhob er sich. Aber Richter Di legte ihm die Hand auf den Arm und sagte:

«Wartet noch einen Augenblick und seht genau hin! Dort, dort ist das Gift, das eure Tochter tötete!»

Er zeigte nach oben in den modrigen Dachwinkel. Herr Hua folgte der Richtung seines Zeigefingers. An dem verfaulenden Balken, genau über dem Ofen, schimmerte etwas Rotes. Richter Di hielt seine Hand weiter ausgestreckt. Ma Jung, Tschiau Tai, die Polizisten, die Diener, alle traten näher und schauten gespannt zum Dachwinkel. Und was erblickten sie? Den glänzenden Leib einer roten Natter, die langsam aus der verfaulten Höhlung des Balkens herauskroch; als sie ungefähr eine Handlänge sichtbar war, hob die Natter ihren kleinen, teuflischen Kopf und bewegte ihn hin und her mit sichtlichem Behagen in der Feuchtigkeit des Dampfes.Plötzlich öffnete sie ihr scheußliches Maul und ließ ein paar Tropfen Gift in den Kessel mit heißem Wasser träufeln, das für die Teebereitung gedacht war. Richter Di senkte seine Hand und flüsterte: «Das ist der Mörder der Braut!»

Die alte Dienerin, die noch immer vor dem Wasserkessel hockte und gebannt nach dem Teufelsding blickte, schien vor Angst gelähmt. Sie stieß einen durchdringenden Schrei aus, und die Natter verschwand rasch in ihrem Schlupfwinkel.   - Robert van Gulik (Hg.), Merkwürdige Kriminalfälle des Richters Di. Zürich 1998

Braut

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

VB

 

Synonyme