odhisattva
Er schnitt sich aus seiner Lende Fleisch und gab es ihr zu essen;
und nachdem er sich die Adern beider Arme geöffnet, gab er ihr das Blut zu trinken.
So gelangten sie nach und nach zu einem Berge und ernährten sich dort mit Wurzeln
und Früchten. An dem Fuße dieses Berges floß ein Fluß, in den ein Mann, dem
der Feind Hände und Füße abgehauen hatte, gefallen war. Von dem Wasser fortgetragen,
gab er Laute der Verzweiflung von sich. Viçâkha, der an einer anderen Stelle
Wurzeln und Früchte sammelte, hörte das Hilferufen und da sein Gemüt von Mitleid
ergriffen wurde, bestieg er den Berg und fing an nach allen Seiten zu blicken.
Als er nun sah, wie der Mann vom Wasser fortgetragen wurde, stieg er eilends
den Berg hinab, sprang in den Fluß, nahm den Mann auf sich und trug ihn ans
Ufer. Von seinem Unglück ergriffen, fragte er ihn: »O Sohn, wie ist das gekommen?«
Als dieser ihm den ganzen Verlauf erzählt hatte, sprach er ihm Mut zu, sättigte
ihn mit Wurzeln und Früchten und übergab ihn seiner Frau, durch deren Pflege
er wieder hergestellt wurde. Da ihnen dieses Pflegen behagt hatte, ging sie
wiederholt zu ihm und verbrachte die Zeit in verschiedenen Gesprächen. Durch
die Natur der Dinge sind die Bodhisattva's nicht besonders der Liebesleidenschaft
ergeben und so kam es, daß Viçâkha nur zeitweise der Liebeslust Genüge tat.
Da durch die Macht des Bodhisattva's Stämme, Wurzeln und Früchte überaus große
Kraft hatten, wurde die Frau durch deren Genuß in geschlechtliche Erregung versetzt
und fing an jenen fuß- und handlosen Mann zu verlocken. Der Krüppel wollte nicht
darauf eingehen und meinte, daß er, der schon so gut wie tot gewesen, von dem
Mann gerettet und hergestellt, sei und durch eine solche Handlungsweise in eine
Stellung geraten würde, die der eines Lebensräubers gleichkomme. Da sie ihn
aber wiederholt verlockte und es schwer war, der Leidenschaft Herr zu werden,
so ruhte er an ihrer Seite. Obwohl im Liebesgenuß leicht die Leidenschaft zunahm,
so wollte er lieber nicht zu ihr. Allein er bedachte, daß er, da sie nun so
von Leidenschaft erfaßt war und da unter allen Feindseligkeiten die des Weibes
die schlimmste ist, jetzt ins Verderben geraten sei. Infolgedessen fing er an
sich mit ihr zu beraten: »Wenn dein Mann es erfährt, daß wir beieinander geruht,
wird er ohne Zweifel dir ein Leid antun und mich töten.« Sie meinte, diese Worte
hätten ihre Richtigkeit und man müsse vorsorglich etwas tun. Da die Weiber,
auch ohne es gelernt zu haben, gescheit sind, bewickelte sie ihren Kopf
mit einem Tuch und legte sich auf einen Felsen schlafen. Als Viçâkha mit
Wurzeln und Früchten heimkehrte und sie so schlafen sah, fragte er sie: »O Gute,
was ist dir?« Sie ent-gegnete: »O Herr, da mir mein Kopf weh tut, ist mir sehr
unwohl.« Vicakha sagte: »Was ist da zu tun?« Als sie in einer Gebirgsschlucht
Steinschmutz erblickt hatte, sagte sie: »O Herr, als ich schon früher einmal
von diesem Kopfleiden befallen war, hat der Arzt mir Steinschmutz verordnet
und dadurch bin ich genesen.« Viçâkha antwortete: »Ich werde Steinschmutz suchen.«
Sie entgegnete: »Da sich solcher in dieser Gebirgsschlucht befindet, werde ich
dich an einem Seil halten und du wirst ihn heraufholen.« Da
die hehren Wesen aufrichtig und einfach sind, so vermutete er keine Arglist
und sprach: »So wollen wir es machen, halte du das Seil und ich hole Steinschmutz.«
Als er sich nun am Seil herabließ, ließ sie es aus ihrer Hand fahren, weshalb
auch er es losließ und ins Wasser fiel. Da der Bodhisattva zu langem Leben und
zum Genuß der Herrschaft
bestimmt war, kam er nicht um, sondern von dem Strom dahingetragen, gelangte
er zu einer Königsburg. Dort war der König ohne Nachkommenschaft gestorben und
die Minister samt den Stadt- und Landbewohnern berieten sich, wen sie, da kein
König da sei, in die Herrschaft einsetzen sollten.
- Märchen aus Tibet. Hg. Helmut Hoffmann. Düsseldorf Köln (Diederichs,
Märchen der Weltliteratur)
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