lutschande  Ein alter Rechtsanwalt erzählte mir eine Geschichte über die Richter von früher (nicht die heutigen, Gott bewahre, denn wir wissen doch nur zu gut, wie Don Abbondio sagen würde, mit welch unerschütterlichem Eifer und Einsatz die heutigen Richter richten): In einem Blutschandeprozeß hatte er den Angeklagten in der ersten Instanz verteidigt; im Berufungsverfahren brauchte er sein Plädoyer dank der folgenden List nicht zu halten: An dem Tag, an dem der Prozeß stattfinden sollte, ging er vorher bei seinem Buchbinder vorbei, der ihm einige Bücher gebunden hatte; er nahm sie in Empfang, legte Papierstreifen als Lesezeichen hinein und baute sie im Gerichtssaal vor sich auf dem Tisch auf, so als wollte er sie für sein Plädoyer verwenden.

Als die Richter den Saal betraten, fiel ihr Blick auf den Bücherwall, der einen langen Kampf anzukündigen schien, und sofort verdüsterten sich ihre Mienen. Es war ein Samstag, also Wochenende (das heute spätestens am Freitag beginnt und für einige Privilegierte bis Montag dauert); die einen wollten wegfahren, die anderen über den Markt schlendern. Nachdem sie halblaut miteinander konferiert hatten, wandten sich die Richter an den Anwalt und fragten besorgt: »Wird es lange dauern?« Der Anwalt, ein hervorragender Mime, breitete die Arme aus und hob die Augen zum Himmel, wie um zu sagen: ja, leider, er sei untröstlich, um seinet- und um ihretwillen, aber es würde wohl sehr lange dauern.

Neues Geflüster der Richter. Der Vorsitzende machte dem Staatsanwalt ein Zeichen, doch bitte herüberzukommen. Die Richter versuchten ihn zu überreden, der Staatsanwalt zögerte. Schließlich sah man den Staatsanwalt zustimmend nicken. Wieder bewegte der Vorsitzende den Zeigefinger, diesmal um den Verteidiger herbeizuwinken.

Der Anwalt trat vor, und der Vorsitzende fragte ihn, ob man auf das Plädoyer verzichten könne. Noch immer wortlos, nur durch Gesten, drückte der Verteidiger Bedauern und Verwunderung aus. »Die Mindeststrafe?« schlug der Vorsitzende vor. Der Anwalt machte eine entsprechend zweideutige Handbewegung: Ich nehme Ihr Angebot an, ich weiß es zu schätzen, ich bin Ihnen dankbar dafür - dabei hatte ich eine so schöne Verteidigungsrede vorbereitet...

Doch in diesem Augenblick legte der Staatsanwalt den Finger auf den wunden Punkt. »Ich möchte wissen, worum es eigentlich geht.« Er hatte da, um gerecht sein zu wollen, nicht ganz unrecht. Der Anwalt, der genau wußte, wie schändlich der Fall war, und daher fürchtete, der Staatsanwalt könnte die schon fast vereinbarte Mindeststrafe in Frage stellen, erwiderte: »Dann beginnen wir also, den Fall zu verhandeln«, und kehrte an seinen Platz hinter dem Bücherwall zurück. Zwischen Richtern und Staatsanwalt entspann sich ein erregter Wortwechsel. Dann verebbte er allmählich.

Der Staatsanwalt begab sich auf seine Bank und forderte die Mindeststrafe. Die Richter berieten in Windeseile und verhängten sie sodann im Namen des Königs Viktor Emanuel. Kurz darauf begegneten sich der Anwalt und der Vorsitzende in der Eingangshalle des Gerichtsgebäudes. Ohne stehenzubleiben, er war ja in Eile, fragte der Vorsitzende: »Zufrieden?« Der Anwalt mimte ein fiat voluntas tua. Darauf entgegnete der Vorsitzende: »Warum lassen Sie die beiden nicht heiraten?« Sprich: der Angeklagte seine eigene Tochter. - (scia)

 

Blut Schande

 

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