Blöße, weibliche  Am inneren Eingang der Markuskirche steht kerzengerade ein Mann, macht bisweilen ein paar gewichtige Schritte, eine imponierende, eher grimmige Gestalt, gekleidet wie im achtzehnten Jahrhundert (etwa wie damals die Pförtner der Herrschaftshäuser und heutzutage die Portiers einiger Hotels), doch ganz in Schwarz, mit einem Knüttel, der oben eine Messingkugel trägt, und mit sonst noch allem, was gebraucht wird, um den Leuten Respekt einzuflößen. Doch lassen wir ihn erst einmal stehen (wir sehen ihn bald wieder) und gehen in irgendeine Calle dieser königlichen Stadt.

Hier wird unser Gehör nicht von der angenehmen Mundart des Ortes umschmeichelt, sondern von haarsträubenden Sprachen aus dem Norden zerrissen, und sehen wir uns um, erblicken wir nichts als behaarte knorrige Pranken, nichts als Arme und Brüste wie Mortadellawürste; oder, wenn wir auf die Verpackung statt auf den Inhalt achten, von Sattelriemen übel gehaltene Lederhosen, weit ausgeschnittene Kattunkleider und ähnliches mehr. Diese ganze Herde (also die der ungeschlachten Fremden, denen das süperbe venezianische Volk noch zu liebedienern hat) schlürft, durcheinander redend und schreiend, und in der Hand den Reiseführer, mit groben Füßen in noch gröberen Schuhen über das Pflaster, auf das die Sonne senkrecht knallt, verhält, den ausgestellten Kleinkram kommentierend, vor jedem Geschäft für Galanteriewaren und bewegt sich, diese ganze Herde, natürlich auf San Marco und den obengenannten Aufseher zu. Dessen Obliegenheiten zu erläutern es nun an der Zeit ist. Kaum erscheint nämlich im Atrium der Kirche eine dieser nacktarmigen Frauen, streckt der schwarze Mann mit strenger Miene den Zeigefinger nach ihr aus, wie wir dies auch auf vielen berühmten Gemälden Gottvater bei unserer Ur-mutter tun sehen; und ebenso wie jene sich plötzlich ihrer Nacktheit schämte, so schämt sich jetzt deren späte Nachkomme ihrer entblößten Arme und starrt verwirrt ihren Ankläger an. Scheint es doch, daß dem Herrn über diesen Ort, also Gottvater, die weibliche Blöße, auch nur die partielle, nicht willkommen ist; oder, um gleich an alles zu denken, daß ihn, nach so langer Zeit, die eigene Schöpfung immer noch verdrießt. Kurz gesagt, die Besucherin muß die Hinweise dieses Hüters ihrer Demut befolgen und, gleich Cincinnatus, ihren Körper verhüllen, oder sie hat auf den Besuch mit den sich daraus ergebenden Ablässen und Gnaden zu verzichten. Und hier bieten sich zwei Möglichkeiten: fassen wir zunächst die erste ins Auge, daß nämlich die Besucherin von einem jener Heimatgenossen begleitet sei, die zwar Lederhosen tragen, aber zufällig auch mit einer Jacke versehen sind. In solchem Fall neigt der Zerberus zu einer gewissen Nachsicht, rät dem einen, seine Jacke der anderen abzutreten, und läßt, befriedigt, alle beide hinein, die Frau, eingemummt in das männliche Kleidungsstück, und den Mann, fast so nackt wie ein Wurm, ist ihm doch vielleicht außer den berüchtigten Hosen sonst nichts verblieben als solch Unterhemd, das man auch «Turnhemd» nennt, und, je nach Neigung, ein Baedeker oder Fotoapparat; von der erzwungenen Exhibhion der Waden, Bizepse, Trizepse und verschiedentlichen Vliese gar nicht erst zu reden.

Aber wenn die Frau allein ist, werdet ihr fragen, oder wenn ihr Begleiter schon ohne Jacke gekommen ist? O du geliebtes Italien, wie verkennt ihr doch mit solcher Frage dessen Möglichkeiten! Italiener ist doch nicht nur derjenige, der bei den Frauen jeden Zentimeter nackten Fleisches mißt, sondern Italiener ist auch dieses demütige Männlein, das ich euch jetzt vorstellen will und das sehr wohl die ganze Rührigkeit (und ebenso die Zurückhaltung) der Art in sich vereint.

Dieses Männlein, ein wenig schielend mit dem einen Auge, steht im dunkelsten Winkel des Atriums, und über seinem Arm hängen gewisse Lappen, deren Sinn nicht gleich erkennbar ist. Sieht man aber genauer hin, merkt man, daß es nichts als Ärmel sind, gefertigt aus jenem durchsichtigen Material, wohl «Plastik» genannt, aus dem auch einige Regenmäntel hergestellt werden; diese Ärmel werden durch ein Bändchen, das man sich über die Schulter führt, paarweise zusammengehalten, damit sie nicht von den Armen rutschen, und das Männlein leiht sie, wie gewiß schon zu erraten war, gegen eine bescheidene Gebühr an die Besucherinnen aus, die sonst keine Möglichkeit haben, sich zu bedecken. Und da somit dem Übel abgeholfen ist, könnte alles, wie stets bei uns, seinen Fortgang nehmen, litte das Männlein nicht an einer krankhaften Schüchternheit, die ihn daran hindert, sich den hilfebedürftigen Ausländerinnen gegenüber offen zu erklären; nachdem er einen knappen halben Schritt auf sie zugegangen ist und irgend etwas für sie Unverständliches gemurmelt hat, beschränkt er sich im wesentlichen darauf, mit seinen Lappen zu wedeln. Jene gehen dann fort, ohne etwas begriffen zu haben, er aber verschließt sich immer mehr in sich selbst.

Meine Begleiterin beim Spaziergang und bei den Beobachtungen nimmt sich glücklicherweise sein Schicksal zu Herzen und überzeugt ihn durch gutes Zureden und Ermunterungen, unbefangener zu sein. So daß wir bald darauf Zeugen der hier als Beispiel wiedergegebenen Szene sein können.

Eine Besucherin in reiferem Alter nähert sich und trifft sozusagen mit vorgereckter Brust auf den üblichen ausgestreckten Zeigefinger. Doch ist sie keineswegs erstaunt oder beschämt, sondern blickt sich mit einem gewissen Triumphgefühl um: muß es ihr doch, wie meine Begleiterin mit weiblichem Scharfsinn bemerkt, eine Freude sein, in ihrem Alter als provozierend oder zumindest noch als Frau angesehen zu werden (womit sich bewahrheitet, daß dummer Moralismus stets das Gegenteil von dem bewirkt, was er bezwecken will). Das ist der Augenblick des Männleins, welches, wie von seinem guten Engel vorwärtsgestoßen, nun seinerseits vortritt und stottert: «fünfzig Lire.» Die Besucherin begreift nicht, begreift dann doch, lächelt und streift sich, wobei ihr das Männlein hilft, die Ärmel über, die gerade lang genug sind, der Vorschrift des Zerberus zu genügen (und deren Durchsichtigkeit wenig stört). Dieser äußert sein Einverständnis; die Besucherin kann endlich in die Kirche.

Auf diese Weise ist jedermann dank zweier Lappen nun zufrieden: zufrieden der finstere Wächter, doppelt zufrieden die Besucherin, zufrieden wir Zuschauer, zufrieden Unser Herrgott, zufrieden vor allem das Männlein, das nun seiner Frau ein hübsches Schärflein mit nach Hause bringen kann und dessen einziges Auge endlich lächelt.  - (land2)

 

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