Blicktausch   Ein Mann sprang ab, und der Lastwagen fuhr weiter.

Der Mann blieb mitten auf der Straße stehen und blickte sich um. Es war ein großer Mann mit braunem, gelocktem Haar und trägen tiefblauen Augen. Seine Lippen waren rot, und er lächelte das lässig überlegene Lächeln eines Angebers. Der Mann trug ein rotes Hemd und einen breiten Gürtel aus schön gearbeitetem Leder; in der Hand hatte er einen Blechkoffer und eine Gitarre. Vetter Lymon war der erste, der den Neuankömmling erblickte, denn da er das Schalten der Gänge gehört hatte, wollte er nachsehen, was los war. Er steckte den Kopf um die Ecke der Veranda, ohne jedoch ganz hervorzukommen und sich den Blicken auszusetzen. Er und der Mann starrten einander an, und es war nicht der Blick zweier Fremder, die sich zum erstenmal begegnen und rasch abschätzen. Es war ein eigentümlicher Blick, den sie austauschten - wie der Blick zweier Verbrecher, die sich gegenseitig erkennen.  - (bal)

Blicktausch (2)   Elysische Zusammenkunft der süßen Schatten, Ruf, Beschwörung des Miteinandermöglichen! Arme und teure Zamira! Sie schenkte aus für die Fuhrleute der Via Appia: für die Carabinieri auf dienstlicher Streife. Stehenden Fußes, jene, vom Sommer herantretend, Gewehr umgehängt: verstaubt, erhitzt, geblendet vom Unendlichen: verstört vom Grillengeschrei: Kopf und Mütze umwölkt vom Mückenschwarm, hinauf, hinauf, Gesums wie von unsichtbar gezupfter Gitarre: Gespenstervorhut. Sie, nachdem sie das Getränk gebracht, hockte wieder nieder und nadelte zahnlos (die vorderen fehlten) im Kreis ihrer zarten Novizinnen, die gleichfalls werkelnd saßen: bei . Nadelarbeit, Maschenwerk. Gesenkten Hauptes, aber sie hoben es flink, von Weile zu Weile, eine nach der andern, erst diese, dann jene: um mit der Hand, wie unwillig, das Gefäll der ( Haare zurückzustreifen. In diesem Augenblicke aber blitzten die Augen: schwarz glänzend, auftauchend aus dem Überdruß: dann ließ der Blick sich nieder, verdrießlich, auf der Gleichgültigkeit eines Gegenstandes, was es auch war, ein Knopf, ein Gewehrgriff, die Dienstpistole des Betreffenden, oder ein wenig, weiter droben, ein wenig weiter rechts, ein wenig weiter links. Ein Gerüchlein nach Landmädchen in kurzen Röcken. Welche Verheißungen, welche demographischen Hoffnungen, arme, mollige Dinger, für den ewigen Frühling des Vaterlandes, unserer gehebten Italia! Von den Knien, heilige Muttergottes! von den festen Knien ... Strümpfe, gar nicht dran zu denken! Unterhosen, zum Teufel! Die Beine fest, fest aneinanderge-preßt, daß man glauben mochte, sie brüteten ein Ei aus, hüteten einen Schatz. Oder auch ganz im Gegenteil: die Beine auf den Stuhlsprossen, so daß man, bei günstiger Position, gewisse Panoramen zu sehen kriegte. Gewisse Schinkenschenkel...

Der Blick tauchte ins Halbdunkel, dann ins Dunkel: drängelte, kletterte in den Schluchten der Hoffnung, wie ein Höhlenforscher sich hinunterläßt und dann heraufklettert, wie ein Kaminfeger. Und erst die Carabinieri! Grimmigen Gesichts, treu nach Dienstvorschrift, aber die Augen gewichst. Und erst die Antwortblicke! Augen! Flüchtige Blitze! Pfeilschüsse, daß man das Herz in der Brust ersterben fühlte, bei den Carabinieri.  - Carlo Emilio Gadda, Die gräßliche Bescherung in der Via Merulana. München 1988

Blicktausch (3)

 

- N. N.

Blicktausch (4)  Merkwürdig, als ich noch in Deutschland herumfuhr, fiel mir auf, wie viele junge Menschen nicht mehr aufschauen, den Fremden unterwegs nicht ansehen, den Tausch der Blicke nicht mehr für nötig halten. Nicht weil sie so geduckt oder verklemmt gewesen wären, im Gegenteil, sie trotten inzwischen eher angstfrei durch die Räume. Vielleicht ist es gerade das, und eine elastische Selbstgewißheit, eine anhaltende Solidarfühlung lassen die urtümliche Beachtung des Fremden überflüssig werden. Sein plötzliches Erscheinen erregt weder Scheu noch Neugier. Es wird ganz einfach nicht bemerkt. In anderen Ländern kann man dagegen nach wie vor in Blicken schwimmen.  - Botho Strauß, Der junge Mann. München 1984
 
 

Blick Begegnung

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme