lick,
zweiter
Man findet, daß diejenige Bildungen, die beim ersten Anblicke nicht
sonderliche Wirkung tun, weil sie nicht auf eine entschiedene Art hübsch sein,
gemeiniglich, so bald sie bei näherer Bekanntschaft zu gefallen anfangen, auch
weit mehr einnehmen und sich beständig zu verschönern scheinen; dagegen das
hübsche Ansehen, was sich auf einmal ankündigt, in der Folge mit größerem
Kaltsinn wahrgenommen wird, welches vermutlich daher kommt, daß moralische Reize
wo sie sichtbar werden mehr fesseln, imgleichen weil sie sich nur bei Gelegenheit
sittlicher Empfindungen in Wirksamkeit setzen und sich gleichsam entdecken lassen,
jede Entdeckung eines neuen Reizes aber immer noch mehr derselben vermuten läßt;
anstatt daß alle Annehmlichkeiten, die sich gar nicht verhehlen, nachdem sie
gleich anfangs ihre ganze Wirkung ausgeübt haben, in der Folge nichts weiter
tun können, als den verliebten Vorwitz abzukühlen und ihn allmählich zur Gleichgültigkeit
zu bringen. - Immanuel Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen
und Erhabenen (1764)
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