Bildschändung    Ohne es recht zu bemerken, jedoch nicht ganz zufällig hatte ich gerade vor dem dunkelsten und mächtigsten Werk der Sammlung haltgemacht und mich niedergelassen. Schon beim ersten Mal, als ich an ihm vorbeikam, mußte ich mich unwillkürlich ducken, so bedrohlich erschien es mir. Wie erschrak ich nun aber, als ich den Kopf erhob und plötzlich vor mir sein ganzer massiver Farb-Körper sich aufrichtete, und dies Ungeheuer . . . Ich wußte ja nicht, um was es sich handelte. Beinahe die gesamte Leinwand wurde beherrscht von einer breiten, kelchförmigen Aufwehung, moosgrün, erdbraun und an einer Stelle feuerrot. Ein dunkler Überschwang, eine nach oben geworfene Existenz, die Fontäne einer einzigartigen Energieentladung mit einem Tanz von bunten Flämmchen auf dem Kamm. Ich konnte nicht glauben, daß ich ein lebloses Gemälde vor mir hatte. Ich sprang auf, ein schmerzhaftes, dichtes Gedröhn umschloß mich, der Herzton eines unvorstellbaren Kolosses schwoll und rollte heran, der maßlose Puls vor meinen Augen dehnte sich aus und wollte gleich schlagen, und er machte mich zu einem winzigen, flüchtigen Zeit-Bakterium und mein Leben zu einem jähen Sprung.

Ich verspürte keinen Haß auf das Werk. Ich mußte mich nur zur Wehr setzen. Der dunkle übermächtige Puls wollte mich erschlagen. Ich hatte ja nur diese kleine Nagelschere in meiner Handtasche. Und so lächerlich es auch war, ich mußte mich aufbäumen bis zuletzt. Ich nahm die Schere in meine Faust und lief mit erhobener Spitze gegen die Leinwand. Ich rannte sie ihm in seinen Rachen. Ich stach viele Male, doch je mehr ich stach, umso wütender wurde das Biest. Ich wand mich in seinem Würgegriff, doch ich ließ nicht nach, ich schnitt und schlitzte das Segeltuch und versetzte ihm tiefe Wunden. Zwei lahme Wärter kamen herbeigehumpelt; sie schrien um Hilfe, sie ergriffen mich zitternd und fluchend beim Arm, zerrten und rissen daran, als war er ganz allein der Übeltäter.

Ich war außer mir, aber nicht von Sinnen. Ich wußte, was ich tat. Ich kämpfte um mein Leben. Es hieß, ich hätte versucht, eine großartige Schöpfung der amerikanischen Malerei zu zerstören. Aber eine wahre Schöpfung kann niemand zerstören. Ich hatte denn auch nur ein Bild geschändet.   - Botho Strauß, Der junge Mann. München 1984

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