Bibliothekssystem 

   

- Ronald Searle

Bibliothekssystem (2) Schauen wir uns deine Bücher an. Als erstes fällt auf, jedenfalls beim Anblick derer, die du am sichtbarsten hingestellt hast, daß Bücher dir zur unmittelbaren Lektüre dienen, nicht zu Studienzwecken oder zum Nachschlagen, auch nicht zum Aufbau einer wie immer geordneten Bibliothek. Mag sein, daß du ein paarmal versucht hast, deinen Regalen einen Anschein von Ordnung zu geben, aber jeder Klassifizierungsversuch wurde alsbald von heterogenen Neuzugängen wieder zunichte gemacht. Das tragende Ordnungsprinzip, nach dem die Bände aufgereiht sind, bleibt daher neben dem ihrer Größe noch immer das ihrer Chronologie, das heißt die zeitliche Reihenfolge ihres Erwerbs. Trotzdem weißt du bei allen, wo du sie finden kannst, es sind ja zum Glück auch nicht allzu viele (andere Regale hast du vermutlich in anderen Wohnungen stehengelassen, in anderen Phasen deines Lebens), und wahrscheinlich suchst du gar nicht so oft nach einem schon gelesenen Buch.

Denn offenbar bist du keine Leserin, Die Wiederzulesen Pflegt. Du erinnerst dich sehr genau an alles, was du einmal gelesen hast (dies war einer der ersten Züge, die du von dir zu erkennen gabst); vielleicht ist für dich jedes Buch identisch mit seiner Lektüre in einem bestimmten Augenblick, als du es ein für allemal gelesen hast. Und wie du sie dir im Gedächtnis bewahrst, so möchtest du deine Bücher auch als Gegenstände behalten und um dich haben.

Gleichwohl ist unter deinen Büchern, in diesem Ensemble, das keine Bibliothek darstellt, ein toter oder schlafender Teil erkennbar: das Lager der beiseitegelegten Bände, die du gelesen hast und kaum jemals wiederlesen wirst, oder die du nicht gelesen hast und niemals lesen wirst, aber dennoch behältst (und abstaubst) - und daneben ein lebendiger Teil: die Bücher, die du gerade liest oder die du bald lesen willst oder von denen du dich noch nicht lösen kannst oder die du gern um dich hast. Im Unterschied zu den Küchenvorräten ist es hier der lebendige, zum unmittelbaren Verbrauch bestimmte Teil, der mehr über dich aussagt. Manche Bände liegen im Zimmer herum, einige aufgeschlagen, andere mit improvisierten Lesezeichen oder mit eingeknickten Seiten markiert: Du hast offenbar die Gewohnheit, mehrere Bücher gleichzeitig zu lesen, dir für die verschiedenen Stunden des Tages verschiedene Lektüren zu wählen. Auch für die verschiedenen Ecken deiner immerhin doch recht kleinen Wohnung: Es gibt Bücher für deinen Nachttisch, andere finden ihren Platz neben dem Sessel, in der Küche oder im Bad.  - Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht. München 2007 (Zuerst 1979)

 

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