Bewußtsein, körperloses   Es gibt eine uralte verborgene Lehre, so alt wie das Menschengeschlecht; sie hat sich vererbt von Mund zu Ohr bis heutigentags, aber nur wenige kennen sie. Sie zeigt uns die Mittel, die Schwelle des Todes zu überschreiten, ohne das Bewußtsein zu verlieren, und wem es gelingt, der ist von da an Herr über sich selbst: - Er hat ein neues Ich erworben und was ihm bis dahin als Ich erschienen, ist nur mehr ein Werkzeug, so wie jetzt Hand oder Fuß unsere Werkzeuge sind.

Herz und Atem stehen still wie bei einer Leiche, wenn der neuentdeckte Geist auszieht - wenn wir wegwandern. wie die Israetiten von den Fleischtöpfen Ägyptens, und zu beiden Seiten die Wasser des Roten Meeres stehen wie Mauern. Lange und viele-mal mußte ich es üben unter namenlosen, zermürbenden Qualen, bis es mir endlich gelang, mich vom Leibe loszulösen. Anfangs fühlte ich mich schweben, so wie wir wohl im Traume zuweilen glauben fliegen zu können - mit angezogenen Knien und ganz leicht -. aber plötzlich trieb ich in einem schwarzen Strom dahin, der von Süden nach Norden floß - wir nennen es in unserer Sprache das Aufwärtsfließen des Jordan -, und sein Brausen klang wie das Rauschen des Blutes in meinem Ohr. Viele aufgeregte Stimmen, deren Urheber ich nicht sehen konnte, schrien mich flehend an. ich solle umkehren, bis mich ein Zittern befiel und icli in dumpfer, unbestimmter Angst einer Klippe zuschwamm, die plötzlich vor mir auftauchte. Im Mondlicht sah ich ein Geschöpf dort stehen, so groß wie ein halbwüchsiges Kind, nackt und ohne die Merkmale männlichen oder weiblichen Geschlechtes; es hatte ein drittes Auge auf der Stirn wie der Polyphem und deutete stumm und regungslos in das Innere des Landes.  - Gustav Meyrink, Der Kardinal Napellus. Stuttgart 1984 (Bibliothek von Babel Bd 18, Hg. Jorge Luis Borges)

Bewusstseinsort Körperlosigkeit

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